Serie Gipfelstürmer:Hilfe für Chirurgen-Rücken

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Die Arbeit in Operationssälen ist immer noch so ungesund wie vor 100 Jahren, findet Sabrina Hellstern. Sie gründete ein Start-up, das den Alltag des Klinikpersonals erleichtern soll. Geld verdient sie aber erstmal mit etwas anderem.

Von Stefan Mayr, Wannweil

Sabrina Hellstern klappt ihren Laptop auf und startet eine Powerpoint-Präsentation. "Das nennt man jetzt Pitch-Deck", sagt sie lachend, "wir sind ja so cool." Die 37-jährige Mutter von zwei Kindern kann über sich selbst lachen, das ist schon mal klar. Als nächstes zeigt sie, dass sie auch sehr überzeugend ihr Produkt an den Mann oder die Frau bringen kann. "Wir bieten eine Lösung zu einem echten, weltweiten Problem", sagt sie.

Auf ihrem Laptop erscheinen Fotos von einem Chirurgen bei einer Operation. Er steht im grünen Kittel am OP-Tisch mit gebeugtem und seitlich verdrehtem Rücken neben einem sogenannten C-Bogen-Röntgengerät. Immer wieder steht er auf nur einem Fuß oder auf Zehenspitzen, um mit seinen Instrumenten die Organe des aufgeschnittenen Patienten überhaupt zu erreichen. Untragbare Arbeitsbedingungen, findet Sabrina Hellstern. "In jeder anderen Branche gibt es ergonomische Schreibtische, Exo-Skelette, elastische Bodenbeläge", sagt sie, "nur in den OP-Sälen ist der Arbeitsplatz des Chirurgen exakt wie vor 100 Jahren."

Das Ergebnis sei fatal: "75 Prozent der Operateure haben Muskel- und Skeletterkrankungen", berichtet die examinierte Kinderkrankenschwester. 40 Prozent nähmen dauerhaft Schmerzmittel, jeder Fünfte nehme sogar leistungssteigernde Substanzen. Dies alles, um trotz der widrigen Umstände die enorme Belastung zu bewältigen. "Die Berufsgenossenschaft empfiehlt schon seit Jahren Stehhilfen für das OP-Personal", betont sie. Der Arbeitsplatz eines CNC-Fräser werde besser und ergonomischer gestaltet, obwohl bei ihm ein Fehler - im Gegensatz zum Chirurgen - kein Menschenleben gefährdet. Hellstern: "Der Chirurg hat keinen zweiten Versuch."

Ärzte bei einer Operation. Symbolbild (Foto: David Agüero Muñoz/imago/Westend61)

Offen spricht kaum ein Arzt über seine körperlichen Probleme. Keiner will Schwächen eingestehen.

Sabrina Hellstern kennt die Probleme jedoch, sie war jahrelang für einen Medizintechnik-Hersteller im Außendienst tätig. Im Gegensatz zu manch anderem Vertreter versuchte sie nicht nur, das neueste Produkt zu verkaufen. Sie fragte die Ärzte auch nach ihren Bedürfnissen, und sie hörte sich deren Beschwerden und Wünsche an. Und sie schaute genau hin. Sie erzählt von Hirn-Operationen an Kindern, bei denen allein die Fixierung des Kopfes mehr als zwei Stunden dauert. Der Chirurg verbringt diese Vorbereitung fast durchgängig knieend, der harte Boden ist ohne Polster nur durch ein Hygienetuch abgedeckt. Nach diesen zwei Stunden - wenn etwa Fußballprofis längst unter der Dusche stehen - beginnt dann der Eingriff, der auch mal länger als zehn Stunden dauern kann. "Stellen Sie sich vor, zwei bis drei Stunden vornüber gebeugt mit den Händen vor dem Körper zu arbeiten", sagt Sabrina Hellstern. Man muss nicht Medizin studiert haben, um erahnen zu können, wie anstrengend das ist. Hellstern: "Es ist erwiesen, dass mit fortlaufender Dauer der OP die Präzision und die Sehschärfe nachlassen."

Und im persönlichen Gespräch erzählt ihr so mancher Arzt, dass das stundenlang statische Stehen in schräger "Zwangshaltung" ein "sehr großes Problem" sei. Sie hört dann auch mal Sätze wie: "Wir haben starke Schmerzen - jeden Tag."

So ist ihre Geschäftsidee entstanden. Irgendwann war ihr klar: Hier klafft - weltweit - ein Missstand respektive eine Marktlücke, um die sich noch keiner gekümmert hat. Im Januar 2019 gründete sie ihre Firma Hellstern medical GmbH, um einen ergonomischen Stützapparat zu entwickeln, der die Operateure bei der Arbeit am OP-Tisch in optimale Position bringt, sie dort hält und stabilisiert, egal ob sie sitzen oder stehen. Sie stellte sich ein Team aus Technikern und Medizinern zusammen, die gemeinsam ein solches System entwickeln sollen. Zu ihrer Crew gehört der Neurochirurgie-Professor Martin Schuhmann und der Oberarzt an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin Tübingen, Felix Neunhoeffer, sowie die Ingenieure Harald Rager und Alexander Strobel, die jahrelange Erfahrung in der Medizintechnik haben. Auf Sabrina Hellsterns Visitenkarte steht unter dem Logo der englische Claim: Saving lives reinvented. Leben retten, neu erfunden. Spätestens jetzt ist klar: Diese Frau will mit ihrem Start-up aus dem 5000-Einwohner-Örtchen Wannweil auf der Schwäbischen Alb die Welt der OP-Säle revolutionieren. Das Marktpotenzial sei gigantisch, sagt sie.

Nach 15 Monaten Tüftelei ist das Gerät nun serienreif. Mit seiner Sitzfläche und zwei Haltebügeln, die von der Lende über den Rücken und die Schulter bis zur Brust reichen, sieht das System aus wie eine Mischung aus Barhocker, Schreibtischstuhl und Achterbahnsitz. Mitgründer und Mitentwickler Harald Rager erzählt von der Entstehungsgeschichte: "Das war eine große Herausforderung, so etwas kann man nicht so auf die Schnelle konstruieren." Besonders knifflig: "Das Gerät muss den Operateur halten, darf ihm aber nicht im Weg sein. Der Arzt darf nicht eingeengt werden, braucht freie Armbewegung und trotzdem hohe Stabilität." Außerdem muss sich das Gerät an alle Körpergrößen und Gewichtsklassen anpassen. "Wir mussten komplettes Neuland betreten", sagt der Diplom-Ingenieur, "nichts davon steht in der Fachliteratur, wo man nachschauen kann, sondern man muss alles selbst erfinden und erarbeiten."

"Der Körper wird ruiniert, und die Qualität der Operationen ist nicht optimal."

Das Patent ist inzwischen angemeldet, das Produkt wird bereits getestet. Was noch fehlt: die Zulassung und ein Investor. Einige Anfragen von Investoren habe sie zwar schon vorliegen, sagt Sabrina Hellstern. "Aber wir suchen den geeignetsten." Ein solches Gerät biete eine "Win-Win-Win-Situation für den Arzt für den Patienten und für die Klinik", wirbt sie.

(Foto: SZ)

Die bisherige mangelhafte Ausrüstung führe auch zu krankheitsbedingten Ausfällen der Ärzte, das bedeute Kostensteigerungen für Kliniken und das Gesundheitssystem, auch weil Operationssäle leer stehen. "Da sparen wir auf Kosten der Mitarbeiter und der Patienten. Der Körper wird ruiniert, und die Qualität der Operationen ist nicht optimal." Sabrina Hellstern kritisiert, die "wichtigsten hoch spezialisierten" Chirurgen würden "heruntergewirtschaftet", obwohl sie angesichts des Fachkräftemangels und steigender Operationszahlen "dringend erhalten werden müssten".

Ihr Business-Konzept hat Sabrina Hellstern längst aufgestellt, doch nun hat das Coronavirus auch ihre Planung kräftig durcheinander gewirbelt. Und das nicht einmal ins Negative. Denn bis vor der Krise hatte sie noch keine Umsätze, jetzt verdient sie erstmals Geld: Ihr Team hat auf die Schnelle einen Vollgesichtsschutz für medizinisches Personal entwickelt und verkauft diesen an die Kliniken im Umland.

"Die ersten hundert Stück haben wir schon ausgeliefert", sagt Hellstern, "demnächst können wir auf Tausende hochskalieren." Der Bedarf sei enorm, betont sie. "Viele Kliniken haben aktuell keine ausreichende Versorgung mit Schutzkleidung." Entsprechend dankbar zeigt sich Jan Steffen Jürgensen, medizinischer Vorstand des Klinikums Stuttgart: "Unsere Intensivmediziner und Pflegeexperten sind begeistert", sagt Jürgensen, "hier wirken schwäbische Tüftelei und Unternehmergeist zusammen, damit das medizinische und pflegerische Personal bei Notfalleinsätzen besser gegen Covid-19 geschützt wird."

Sabrina Hellstern versucht nun, zusammen mit einem Autozulieferer die Produktion schnellstmöglich hochzufahren: "Nächste Woche können wir auf Tausende hochskalieren." Die Suche nach einem Investor muss zunächst warten.

© SZ vom 21.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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