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Justiz Welche Rechte braucht die Natur?

Die Vereinsbeirätin Hanne Tügel fragt in einem Gastbeitrag: Wenn Umweltpolitik versagt – können dann Richterinnen und Richter den Planeten schützen?

Zumindest sind sie inzwischen ein wesentlicher Faktor, wenn es darum geht, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schonen und die Chancen zukünftiger Generationen zu wahren. Richtungweisend in Deutschland war das Urteil des Bundesgerichtshofs, das im April 2021 von der Merkel-Regierung verlangte, das Klimagesetz nachzubessern. Einen Monat später zwang ein niederländisches Gericht den Shell-Konzern dazu, seine Klimaschutzbemühungen drastisch zu verstärken und den CO2-Ausstoß bis 2030 um 45 Prozent zu senken. Im Oktober 2021 entschied ein Gericht in Paris, dass Frankreich verfehlte Klimaziele ausgleichen muss: Die gesetzlich vorgesehenen CO2-Obergrenzen waren 2015 bis 2018 um mehrere Millionen Tonnen überschritten worden. Geklagt hatte unter anderem Greenpeace.

Eine NGO aus Österreich klagt vor dem Internationalen Gerichtshof gegen Brasiliens Präsident Bolsenaro  

Nun sollen auch Strafgerichte tätig werden. So bemüht sich eine österreichische NGO, den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro vor Gericht zu bringen. Die im März 2021 ins Leben gerufene Organisation „AllRise“ hat im Oktober eine entsprechende 286 Seiten starke Klageschrift eingereicht. Der Vorwurf: „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Zum großen Vorbereitungs-Team aus Rechts- und Klimawissenschaft gehört Friederike Otto, eine der HauptautorInnen des neuesten Klimaschutzberichts des IPCC. Im Beirat ist unter anderem Sir Howard Morrison aktiv, der bis 2021 selbst zehn Jahre lang als Richter im Internationalen Strafgerichtshof gewirkt hat. Eine der Organisationen, die das Vorhaben unterstützen, ist die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die selbst häufig erfolgreich Klima-Klagen auf Bundes- und Landesebene eingereicht hat. AllRise-Gründer Johannes Wesemann argumentiert: „Jair Bolsonaro treibt die Zerstörung des Amazonas sehenden Auges und in voller Kenntnis seiner Folgen voran.“ Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag habe „die klare Pflicht, Umweltverbrechen von solch globaler Tragweite zu untersuchen“. Doch die Klage fällt in eine juristische Grauzone. Im Artikel 7 des „Rom-Statuts“ des Internationalen Gerichtshofs, der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ definiert, sind die Folgen von Umweltzerstörung nicht explizit als Strafbegründung genannt. Zuversichtlich stimmt AllRise, dass der Internationale Gerichtshof im Dezember 2020 eine andere Klage gegen Bolsonaro zugelassen und eigene Vorermittlungen aufgenommen hat. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den direkten Folgen der Waldvernichtung für die 300 indigenen Völker im Regenwald. Diese Klage stammt von brasilianischen Menschenrechtlern, prominenter Mitstreiter ist der frühere Justizminister José Carlos Dias. Begründung: Die Regierungspolitik, den Lebensraum und die Schutzgebiete der Indigenen auszuplündern, sei Aufstachelung zum Völkermord an einer Million Menschen. Genozid (Völkermord) gehört zu den Verbrechen, für die der Internationale Gerichtshof laut Rom-Statut zuständig ist. Die Forderung, „Ökozid“ als eigenen Straftatbestand in dieses Statut einzuführen, gibt es schon seit 1972. Damals brachte der ehemalige schwedische Ministerpräsident Olof Palme den Vorschlag ins Spiel, internationale Umweltverbrechen unter diesem Begriff zu ächten. Fast 50 Jahre später kommt auch hier Bewegung in die Diskussion. Eine internationale Expertengruppe von JuristInnen unter dem Vorsitz des französisch-englischen Rechtsprofessors und Völkerrechtsspezialisten Philippe Sands und der senegalesischen Juristin Dior Fall Sow hat im Juni 2021 den Vorschlag für eine Definition vorgelegt. Die zwölf beteiligten JuristInnen wollen „Ökozid“ als neuen fünften Tatbestand ins internationale Strafrecht aufnehmen. Neben Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggression (Angriffskrieg) wäre der Gerichtshof in Den Haag dann auch zuständig für „rechtswidrige oder mutwillige Handlungen, begangen mit dem Wissen, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit besteht, durch diese Taten entweder schwere und weit verbreitete oder langfristige Schäden an der Umwelt zu verursachen“. Bis aus einem solchen Vorschlag ein rechtskräftiges Gesetz wird, vergehen in der Regel viele Jahre. Das wissen auch die Zuständigen in Den Haag. Vielleicht kommen sie zu dem Schluss, nicht darauf zu warten, sondern Regenwaldzerstörung im Großmaßstab als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuerkennen und die österreichische Klage von AllRise zuzulassen.

Ideen für eine Zukunft, die der Natur eigene Rechte zuerkennt

Die aktuellen Klagen und Urteile sind Signale für ein Umdenken. Rücksichtslose Naturausbeutung rächt sich. Die Krisen unserer Zeit machen vom Ahrtal bis Amazonien deutlich, dass wir Teil der Natur sind und bleiben und von ihren Netzwerken abhängen. Es ist an der Zeit, menschliche Arroganz und Ignoranz zu überwinden und unser Verhältnis zur Natur neu zu regeln, wenn wir nicht unsere Lebensgrundlage zerstören und verlieren wollen. In der Welt-Anschauung von indigenen Völkern ist die Harmonie von Mensch und Natur von jeher zentral. Inzwischen entdeckt die Ökologie wieder, wie bereichernd diese Rückbesinnung ist. Der ecuadorianische Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Alberto Acosta schreibt: "Am Ursprung der heutige Ökologiebewegung stehen die Bewunderung und der Respekt für die Natur sowie eine Identifizierung mit ihr, Empfindungen also, die nicht vom Streben nach Dominanz über die Natur, sondern von Neugierde und Liebe geprägt sind." Acosta selbst hat maßgeblich daran mitgearbeitet, dieses Denken in die Verfassung seines Landes einzuweben. Bisher gelten Wälder, Flüsse, Meere, Böden, Klima und Luft zwar in vielen nationalen Verfassungen als Schutzgüter und unterliegen Umwelt- und Naturschutz-Bestimmungen. Doch gegen das rasante Voranschreiten der globalen ökologischen Krise haben die geltenden Regeln nicht genug bewirken können. Das könnte sich ändern, wenn die Natur bei Gericht nicht nur Objekt des Verfahrens ist, sondern eine juristische Stimme bekommt und, vertreten durch TreuhänderInnen, selbst Klägerin werden kann. Ecuador war 2008 der erste Staat, der diesen Weg beschritt. Das Land erhob  "Mama Pacha" ("Mutter Erde") zum Rechtssubjekt. In Artikel 71 der Verfassung heißt es: Pachamama, in der sich das Leben verwirklicht und realisiert, hat das Recht, in ihrer gesamten Existenz respektiert zu werden." Wie kann das funktionieren? " Jede Person, jede Gemeinschaft, jedes Volk oder jede Nationalität kann die zuständige öffentliche Autorität dazu auffordern, die Rechte der Natur umzusetzen.  Ein früher Testfall war der Fluss Vilcabamba, der durch Aushubmaterial bei Straßenbau vermüllt werden sollte. Zwei Anwohnerinnen klagten für ihn und gegen die Regionalregierung und bekamen Recht. Das bedeutet nicht, dass Umweltvernichtung in Ecuador der Vergangenheit angehört. Auch nach der Verabschiedung des neuen Verfassungsartikels wurden große Minen genehmigt, deren Auswirkung ökologisch mehr als fragwürdig sind. Dennoch ist die Idee, der Natur eigene Rechte zuzuerkennen, ein Abschied von einem Denken und Handeln, das die Natur als Rohstofflager und Müllplatz für menschliche Zwecke begreift. Und der Ansatz macht Schule. In Indien, Neuseeland und Kolumbien sind bedeutende Flüsse zu "Rechtspersonen" erklärt worden. Außerdem haben Gerichtsurteile, die einzelnen Tieren Rechtsstatus als Persönlichkeit gewährt haben, für internationale Schlagzeilen gesorgt: So erzwangen argentinische Gerichte die Umsiedlung des Orang-Utan-Weibchens Sandra und der Schimpansin Cecilia, die jahrzehntelang allein in kleinen Käfigen im Zoo eingesperrt waren, in Reservate mit ArtgenossInnen.

Paradigmenwechsel und praktische Politik

Solche Pionier-Aktionen wirken revolutionär in einer Weltgemeinschaft, die von Biodiversität und Klimaschutz redet, aber nach wie vor Regenwaldzerstörung und Artensterben zulässt und deren Ernährungsstil sich auf Monokulturen und Massentierhaltung stützt. Und sie werfen viele praktische Fragen auf: Hilft es der Natur, neue gesetzliche Grundlagen zu schaffen, wenn auch die bisherigen Tier- und Naturschutzgesetze frappante Umsetzungsmängel haben? Für welche Wesen sollen Eigenrechte gelten – für Tier-Individuen, denen der Mensch Schmerzempfinden zugesteht? Oder für Arten, die besonders bedroht sind? Oder eher für ganze Ökosysteme? Und wer sollte die neuen Rechtspersönlichkeiten vor Gericht und in der Öffentlichkeit als TreuhänderIn vertreten – neu geschaffene Naturrechtsbeauftragte oder Umweltverbände? Das 2021 erschienene Buch "Welche Rechte braucht die Natur. Wege aus dem Artensterben"* hat aktuelle Fachbeiträge aus Rechtswissenschaft, Biologie, Ökologie und Politik gesammelt, die sich diesen Fragen nähern und Lösungen suchen. Für das deutsche Recht schlagen Andreas Buser, Völkerrechtler an der FU Berlin, und Hermann E. Ott, Leiter des deutschen Büros der internationalen Umweltrechtsorganisation ClientEarth, eine relativ einfache Gesetzesänderung vor,. Sie wollen den Artikel 20a des Grundgesetzes ("Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere ...") präzisieren und ausweiten. Der Text könnte sich inhaltlich an der ecuadorianischen Verfassung orientieren und der Natur "ein Recht auf Existenz und Schutz ihrer Funktionen und Lebenszyklen einräumen" und den Tieren Würde, "das Recht auf Leben und Gesundheit sowie artgerechte Haltung" zusprechen. Noch erscheint das als Utopie. Doch das politische Versagen beim Thema Regenwalderhalt und Klimaschutz machen einen neuen Blick auf unsere Beziehung zur Natur dringend nötig – auf gesellschaftspolitischer, moralischer und juristischer Ebene. Ökozid vor Gericht zu bringen und Flüssen Eigenrechte zuzugestehen, sind erste Schritte auf dem langen Weg zu einer Versöhnung.

* Literaturtipp Frank Adloff und Tanja Busse (Hg.): Welche Rechte braucht die Natur. Wege aus dem Artensterben. Campus, 2021, 244 Seiten, 19,95 Euro.

Eine digitale Diskussionsveranstaltung zum Thema mit einigen der Buch-AutorInnen ist hier zu sehen: https://www.youtube.com/watch?v=zgyOjTGDuwk

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