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Naturschutz Not bringt Bäume um

Tropenwald- und Artenschutz ist nur mit integrierter Entwicklung möglich, schreibt Vereinsbeirat Dr. Reiner Klingholz, ehemaliger Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, in seinem Blog

Im vergangenen Jahrzehnt gingen nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) 53 Millionen Hektar der tropischen Wälder verloren, eine Fläche so groß wie Neuseeland. Brandgerodet, abgesägt oder durch „ganz normale“ Waldbrände zerstört. Solche Feuer gab es zwar immer schon, aber sie werden durch den menschengemachten Klimawandel immer häufiger. 

Immerhin sind die jährlichen Waldverluste nur noch ein Drittel so hoch wie in den 1980er Jahren. Damals, zu den Spitzenzeiten der Waldvernichtung, mussten die Bäume vor allem im brasilianischen Amazonasgebiet neuen Weide- und Agrarflächen weichen. Hätte sich der Kahlschlag in dem Tempo fortgesetzt, wäre vom größten und vielfältigsten Regenwald der Welt heute kaum noch etwas übrig. 

Aber nur auf den ersten Blick ist das eine gute Nachricht. Denn das Artensterben, das mit dem gebremsten aber anhaltenden Waldverlust einhergeht, hat sich keinesfalls verlangsamt, sondern beschleunigt. Noch nie in der menschlichen Geschichte haben mehr Tier- und Pflanzenarten das Zeitliche gesegnet als in der jüngsten Vergangenheit. Die genaue Zahl der ausgelöschten Arten ist zwar unbekannt, denn viele von ihnen verschwinden von der evolutionären Bühne, bevor irgendein Taxonom sie hätte katalogisieren können. Es gilt aber als sicher, dass der heutige Artentod 100- bis 1000-mal schneller abläuft als unter natürlichen Bedingungen, also wenn der Mensch nicht seine Finger im Spiel hätte. Die Umwandlung von Wald in Ackerland gilt als größte Bedrohung für die Biodiversität, aber auch Umweltgifte, Überfischung und Bejagung, Klimawandel und invasive Arten tragen massiv zu dem Artensterben bei. 

Besonders hoch waren beziehungsweise sind die Waldverluste in armen Weltregionen, in denen die Bevölkerung in der jüngeren Vergangenheit stark gewachsen ist oder immer noch wächst. Die Frage ist, ob es zwischen beiden Phänomenen einen Zusammenhang gibt, dass also ein Mehr an Menschen weniger an Wald bedeutet. 

Arme Bauern sind die Feinde des Waldes 

Eine Untersuchung des Thünen-Instituts für Waldwirtschaft ist dieser Frage jetzt in zwölf Waldgebieten in Sambia, Ecuador und den Philippinen nachgegangen und konnte zumindest für diese Regionen eindeutig zeigen, dass Bevölkerungswachstum massiv zu Lasten des Waldes geht. Denn der Wald bringt den Menschen vordergründig wenig – man kann ihn nicht essen. Sie zerstören ihn deshalb zugunsten anderer Nutzungsformen, vor allem um darauf Landwirtschaft zu betreiben und um Holzkohle herzustellen. Ähnlich haben es die Europäer im Mittelalter gemacht. 

Diese Entwicklung lässt sich mit der sogenannten Forest-Transition-Theorie beschreiben. Sie besagt, dass die Waldbewohner in armen Ländern, in denen meistens auch ein starkes Bevölkerungswachstum herrscht, ihre Einkommenslage in der Regel nur auf Kosten des Waldes verbessern können. Werden sie dadurch ein wenig wohlhabender, geht es den Bäumen noch mehr an den Kragen. Erst wenn die betroffenen Regionen ein noch höheres Wohlstandsniveau erreicht haben, kann der Wald wieder in die Komfortzone wachsen. Dann nämlich wandern viele Landbewohner in die urbanen Zentren ab, weil es dort bessere und mehr Jobs gibt. Und mit steigendem Wohlstand erhöht sich das Umweltbewusstsein. Wirtschaftliche Entwicklung lässt zudem die Geburtenziffern sinken und der Bevölkerungsdruck sinkt. Irgendwann ist der Zeitpunkt erreicht, an dem die Waldflächen wieder zunehmen, auch wenn sie dann nicht mehr ihre ursprüngliche Artenvielfalt zurückgewinnen können. 

Nach diesem Muster breitet sich der Wald in reichen und auch in einigen Schwellenländern wieder aus. Und das, obwohl dort immer mehr Flächen unter Straßen, Häusern, Gewerbe- und Industrieanlagen versiegelt werden. Deutschland bietet ein gutes Beispiel für die u-förmige Entwicklung der Bewaldung über die Jahrhunderte in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand: Zu Zeiten der Römer war die Fläche der heutigen Bundesrepublik weitgehend von Bäumen bestanden. Nach den mittelalterlichen Wüstungen galt das nicht einmal mehr für 20 Prozent des Landes. Heute sind wieder 32 Prozent der Republik bewaldet, obwohl dort wesentlich mehr Menschen leben, Tendenz leicht steigend. Fast in allen Ländern Europas dehnt sich der Wald aus, aber auch in Nordamerika, selbst in China und Indien. Das Gegenteil ist in Südamerika, Zentralafrika, Myanmar und Indonesien der Fall. Dort stehen die am stärksten bedrohten Regenwaldgebiete der Erde. 

Lehren für den Naturschutz 

Um den Wald dort zu bewahren, wo er besonders gefährdet ist, also in den wenig entwickelten Ländern, nützt es wenig, ihn einfach unter Schutz zu stellen. Denn dieser Status steht dort meist nur auf dem Papier und er lässt sich kaum kontrollieren. Die Not treibt die Bauern, die meist nur Subsistenzlandwirtschaft mit sehr geringen Flächenerträgen betreiben, immer weiter in die Waldgebiete. Kleinbauern mögen aus Sicht mancher westlicher Nichtregierungsorganisationen den nostalgischen Charme von Selbstversorgung und Nachhaltigkeit haben, in Wirklichkeit sind sie große Waldzerstörer. In diesem Punkt unterscheiden sie sich kaum von großen Agrarkonzernen, die auf tropischen Rodungen Soja oder Palmöl anbauen oder sie zu Weideland für die Rinderzucht umfunktionieren. 

Nötig wären Entwicklungsprogramme, welche die Subsistenzbauern aus der Falle von Armut und hohen Kinderzahlen befreien können. Die Menschen brauchen Zugang zu Bildung sowie Jobs und Einkommensmöglichkeiten, die nicht davon abhängen, dass immer neue Waldflächen für die Landwirtschaft urbar gemacht werden. Dafür muss der Ackerbau produktiver werden, damit er auf weniger Fläche mehr abwirft. Das sollte mittels einer „nachhaltigen Intensivierung“ geschehen, damit dabei nicht neue Umweltschäden entstehen. Und es sind nachgelagerte Wertschöpfungsketten aufzubauen, in denen landwirtschaftliche Primärprodukte zu markttauglichen Lebensmitteln veredelt werden. Mit derartiger Weiterverarbeitung lässt sich bis zu zehnmal mehr Geld verdienen als mit dem reinen Ackerbau. 

Integriert umsetzen 

Generell lässt sich Artenschutz am besten betreiben, wenn verschiedene Entwicklungsziele wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherung, Trinkwasserversorgung oder Klimaschutz gebündelt verfolgt werden, also mit integrierten Programmen. Weil mittlerweile fast überall auf der Welt Menschen leben, ergibt es wenig Sinn Ökosysteme zu schützen oder zu renaturieren, nur um der Natur einen Gefallen zu tun. Vielmehr geht es darum, den Menschen eine Existenz zu sichern und gleichzeitig den Schaden an der Umwelt zu minimieren, damit der Klimawandel gebremst wird, sich der Wasserhaushalt verbessert und die Tier- und Pflanzenvielfalt eine Chance hat. 

Das geht aus einem Policy Brief des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalysen (IIASA) in Laxenburg bei Wien hervor. Die Wissenschaftler haben in verschiedenen Szenarien untersucht, wie sich Biodiversität am effizientesten erhalten lässt. Eine Extremvariante geht dabei davon aus, dass bis Mitte des Jahrhunderts 40 Prozent der globalen Landfläche komplett unter Schutz gestellt sowie fünf Millionen Quadratkilometer degradiertes Land regeneriert würden, letzteres entspräche der Fläche von Indien und Iran zusammengerechnet. Auf den verbliebenen Agrarflächen müsste dann aber eine hochproduktive Landwirtschaft ohne große Rücksicht auf die Umwelt betrieben werden, so wie es vielerorts in der EU, in Nordamerika oder Brasilien üblich ist. Unter diesen Bedingungen könnte das Artensterben zwar nicht gestoppt, aber immerhin gebremst werden. Allerdings zu hohen Kosten für die Menschen. Denn eine so große Fläche unter Schutz zu stellen würde die landwirtschaftlichen Möglichkeiten massiv begrenzen und die Welt in eine Ernährungskrise stürzen. Die knapp zehn Milliarden Menschen, die es bis 2050 geben dürfte, ließen sich so kaum ernähren, vor allem im armen Teil der Welt, wo die Preissteigerungen für Agrargüter einen verheerenden Effekt hätten. 

Wesentlich mehr Erfolg verspricht ein Szenario, bei dem 60 Prozent der globalen Landfläche nachhaltig bewirtschaftet, acht bis elf Prozent der Fläche renaturiert und der Rest unter Schutz gestellt werden. Zusätzlich wären flankierende Maßnahmen notwendig: Die Handelsbedingungen müssten verbessert werden. Es müsste verhindert werden, dass ein erheblicher Teil der Lebensmittel auf dem Weg zu den Verbrauchern vergammelt. Und die Menschen müssten ihren Fleischkonsum reduzieren. 

Diese Variante einer integrierten Entwicklung könnte eine Ernährungssicherung ohne steigende Lebensmittelpreise garantieren und die Artenvielfalt besser schützen als das extreme Konzept. Der Wasserbedarf wäre geringer, weniger Stickstoffdünger käme zum Einsatz, das Grundwasser würde weniger belastet und die Menschen würden sich gesünder ernähren. Auch für den Klimaschutz wäre dies die bessere Variante: Die Treibhausgasemissionen aus der Land- und Forstwirtschaft würden um 30 Prozent sinken. 

In jedem Fall aber bleibt es eine enorme Herausforderung, eine wachsende Menschheit auf einem begrenzten Planeten zu vorsorgen, ohne dass sie dabei ihre Umwelt und damit ihre eigenen Lebensgrundlagen ruiniert. 

Der Blog von Reiner Klingholz: https://reiner-klingholz.de/blog/ 

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