„Wir werden eine Regierung bilden, die deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definiert. Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen.“
Mit diesen Sätzen beschreibt die Ampel-Koalition in ihrer Koalitionsvereinbarung ihren Anspruch in der Europapolitik. Nach Jahren des Stillstands und von deutschen Blockaden hat der ambitionierte Koalitionsvertrag auch bei unseren europäischen Partner*innen für Hoffnung gesorgt.
Die Hoffnung war, dass mit der Ampel eine europäische Reformregierung an Europas Zukunft konstruktiv mitarbeitet und eigene mutige Vorschläge einbringt. Die ewige Enthaltung, die German Vote, sollte dem Ende angehören. Die Enttäuschung bei unseren Nachbarn und vor allem im Europäischen Parlament ist groß. Bundeskanzler Scholz wird sich am Dienstag im Plenum des Europäischen Parlaments einer kritischen Debatte stellen müssen.
Die Europapolitik des Bundeskanzlers wirft Fragen auf. Am Europatag ist Zeit für Antworten. Die Baustellen auf europäischer Ebene sind groß. Der Bundeskanzler wird gebraucht. Unsere europäische Demokratie ist in Aufruhr. In immer mehr EU Staaten bilden konservative Parteien Bündnisse mit Rechtsaußen.
Parteien, die die Axt an unsere europäische Demokratie legen wollen, gegen Minderheiten hetzen und europäische Werte entkernen wollen, gewinnen an Einfluss. Die deutsche Geschichte allein formuliert für einen Bundeskanzler einen klaren antifaschistischen europäischen Auftrag.
Der konservative Fraktionschef Manfred Weber plant offen Bündnisse mit nationalistischen und rechtsextremen Politiker*innen wie der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni. Es ist an der Zeit, für unsere europäische Demokratie aufzustehen und zu kämpfen. Kanzler Scholz wird als europäische Führungsfigur gebraucht. Wir Grüne rufen ihm zu: Herr Bundeskanzler, kommen Sie an Bord!
Dafür brauchen wir eine handlungsfähige Europäische Union. Während vor wenigen Jahren seriöse Parteien an einer ambitionierten Klimapolitik nicht vorbeikamen, zeigt sich jetzt, wo es konkret wird, wer es mit dem Europäischen Green Deal Ernst meint.
Wer sich als Klimakanzler auf Plakaten betitelt, darf nicht zusehen, wenn der kleinste deutsche Koalitionspartner beim Verbrenner-Aus und anderen Klimamaßnahmen auf die Barrikaden geht.
Deutschland verstimmt europäische Partner
Der Ruf der Bundesregierung als verlässliche Partnerin ist stark beschädigt. In den letzten Monaten wurde viel Vertrauen verspielt. Das Zögern gegenüber Waffenlieferungen für die Ukraine hat bei unseren osteuropäischen Partner*innen zu Verärgerung geführt.
Nicht nur hat die Bundesrepublik über viele Jahre Warnrufe aus Warschau oder den baltischen Staaten ignoriert, selbst jetzt, nach Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine, zaudert die Bundesrepublik. Ähnliche Verstimmungen drohen mit den südeuropäischen Staaten in der gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik.
Während immer mehr Europäer*innen am Ende des Monats ihre Rechnung nicht mehr zahlen können, machen die größten Konzerne Rekordgewinne. Gleichzeitig stehen unsere europäischen Unternehmen vor sehr großen Herausforderungen im Wettbewerb mit den USA. Um die EU für den globalen Wettbewerb aufzustellen, brauchen wir mehr gemeinsame europäische Investitionen.
Dazu brauchen wir einen europäischen Investitionsfonds und eine Reform des europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts, der Investitionen in grüne und soziale Infrastruktur ermöglicht. Die Bundesregierung tritt in diesen Fragen gespalten auf. Während wir Grüne für mehr europäische Investitionen kämpfen, positioniert sich der Bundeskanzler in diesen Fragen nicht eindeutig.
Der wirtschaftliche Erfolg und der soziale Zusammenhalt in der Europäischen Union werden durch die unklare deutsche Position gefährdet. Wir fordern den Kanzler dazu auf, für eine soziale und grüne Fiskalpolitik einzutreten und beispielsweise auf seinen spanischen sozialistischen Amtskollegen Sanchez zuzugehen. Europa hat viele Fragen und Erwartungen an die Bundesrepublik.
Herr Bundeskanzler, es ist Zeit für eine europäische Antwort.
Terry Reintke ist Fraktionsvorsitzende der Grünen/EFA im Europäischen Parlament. Rasmus Andresen ist der Sprecher deutschen Grünen im Europäischen Parlament.
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