Schon kurz nachdem Paolo Gentiloni um zwölf Uhr in Brüssel vor die Kameras trat, um seine große Reform zu verkünden, wurde klar, dass er niemanden zufriedenstellte. Die einen hielten die Vorschläge des EU-Wirtschaftskommissars für übergriffig. Den anderen gingen sie nicht weit genug. Es ist ein Graben, der Europa seit mehr als zehn Jahren durchzieht.
Gentiloni, Italiener, stellte die Ideen der EU-Kommission zur Reform des Stabilitätspakts vor. Also jener Regeln, die festlegen, wie viel Geld die Mitgliedstaaten ausgeben dürfen und wie schnell sie ihre Schulden zurückzahlen müssen.
Zentral dabei ist die sogenannte Zwanzigstel-Regel: Länder mit einer Schuldenquote von mehr als 60 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung müssen jedes Jahr ein Zwanzigstel der Differenz zwischen den 60 Prozent und der tatsächlichen Quote abbauen.
Viele Regierungen, so Gentiloni, könnten diese Ziele nach milliardenschweren Corona-Hilfen und in einer Zeit hoher Energiepreise nicht mehr einhalten. Deshalb die Reform. Der alte Stabilitätspakt überfordere stark verschuldete EU-Mitglieder wie Griechenland, Portugal – und Italien.
Nun schlägt Gentiloni vor, dass die Zwanzigstel-Regel wegfällt. Zudem soll die Kommission in Zukunft mit jedem Staat einzeln über den besten Weg des Schuldenabbaus verhandeln. Brüssel will nicht länger allgemeingültige Regeln vorschreiben, sondern von Fall zu Fall entscheiden. Das bedeutet eine Aufweichung des Stabilitätspakts und würde der Kommission ganz neue politische Spielräume eröffnen. Eine Niederlage für Deutschland: Berlin hatte vor diesem Szenario in den vergangenen Wochen oft gewarnt.
Die Kommission ignorierte das. Berlin lehnt die Pläne der Behörde daher weitgehend ab, Finanzminister Christian Lindner hält sie für unzureichend. „Das, was vorgelegt ist, entspricht noch nicht unseren Erwartungen“, sagte der FDP-Politiker bereits kurz nach Gentilonis Auftritt. „Es braucht noch deutliche Anpassungen.“ Lindner forderte „klare und verlässliche Regeln“, ihm fehlen im Entwurf der Kommission „numerische Vorgaben“.
Wenigstens in einem Punkt scheint Lindner einen Triumph errungen zu haben. Länder mit einem großen Minus sollen ihre Schuldenquote laut dem Vorschlag aus Brüssel um jährlich einen halben Prozentpunkt senken.
Das ist weniger, als Lindner gefordert hatte, aber immerhin eine konkrete Angabe. Zudem plant die Kommission eine für alle Länder verbindliche Regel, nach der das Ausgabenwachstum nicht größer als das Wirtschaftswachstum unter normalen Bedingungen sein darf. Auch das eine Idee von Lindner.
Dennoch halten manche die Bemühungen des Finanzministers für gescheitert. „Ehrlicherweise sind die Vorschläge der Kommission eine Klatsche für Christian Lindner“, sagt Yannick Bury, Haushalts- und Finanzpolitiker der CDU und Mitglied des Europa-Ausschusses des Bundestages. „Allen Kernforderungen des Finanzministers erteilt die Kommission eine Absage.“ Dass die Behörde eine Ausgabenregel aufgenommen habe, sei Kosmetik, damit Lindner sein Gesicht nicht völlig verliere.
Andere meinen, der Vorschlag aus Brüssel schränke die nationalen Regierungen zu stark ein. „Er schafft leider nicht genügend Anreize und Spielraum für die Mitgliedstaaten, um Investitionen in der erforderlichen Größenordnung zu tätigen“, sagt Rasmus Andresen, Europaabgeordneter der Grünen und Haushaltsexperte. Andresen fordert flexiblere Regeln, um den Ländern mehr Ausgaben für klimafreundliche Technologien zu ermöglichen.
Europa dürfte nun vor Monaten harter Verhandlungen stehen. Alle 27 Mitgliedstaaten und das EU-Parlament müssen sich einig werden. Es dürfte viele Verwerfungen geben: zwischen Deutschland und der Kommission, zwischen reichen und armen Staaten, zwischen jenen Regierungen, die mehr Haushaltsdisziplin fordern und jenen, die fürchten, zu hartes Sparen könnte die Wirtschaft lähmen.
Reaktion des Finanzministers spricht für Unzufriedenheit
Schon der Umstand, dass Lindner sich so kurz nach dem Bekanntwerden der Pläne äußerte, ist ungewöhnlich. Das zeigt, wie unzufrieden die Bundesregierung mit dem Ganzen ist.
Andresen, der Grünen-Politiker, kritisiert: „Die Tinte ist noch nicht trocken, da geht Christian Lindner schon mit Fundamentalkritik an die Öffentlichkeit.“ Das werde eine Einigung erschweren.
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