Diese Woche machte ein Video die Runde, das Fans bei einer Stadiontour an der Anfield Road aufgenommen haben. Von Weitem filmten sie Jürgen Klopp, der gerade allein auf dem Rasen des Stadions stand, in kontemplativer Abschiedspose. Die Fans des Videos wimmern schon beim Anblick. Und Klopp tat es in dem Moment womöglich auch.
Nach gut achteinhalb Jahren, 488 Spielen, 303 Siegen, 1086 Toren und acht Titeln geht am Sonntag beim Match zwischen dem Liverpool Football Club und den Wolverhampton Wanderers eine der bedeutendsten Trainerären der jüngeren Fußballgeschichte zu Ende. Klopp und seine Fans: Beide Seiten haben in den vergangenen Tagen betont, dass sie noch gar nicht so recht bereit sind für diesen Moment.
Dabei könnte es auf den ersten Blick scheinen, als würde die Liaison eher glanzlos austrudeln. Kürzlich waren noch vier Titel in Reichweite, nun muss sich Liverpool mit dem bereits im Februar gewonnen Ligapokal begnügen.
Im wichtigeren FA Cup ging das Viertelfinale beim Erzrivalen Manchester United verloren, in der Europa League war es in derselben Runde gegen Atalanta Bergamo vorbei, und in der Meisterschaft fehlte zuletzt der für Klopp-Mannschaften so wichtige Dampf. Nach einer apathischen Derbyniederlage bei Everton erklärte Klopp den Engländern, dass die Fans in Deutschland bei solchen Anlässen „Wir wollen euch kämpfen sehen“ singen würden, und dass er, der eigene Trainer, das Lied auf den Lippen gehabt hätte. „Dabei haben das meine Teams nie zu hören bekommen. Nie. Wie kann das passieren?“ In Szenen wie dieser wurde klar, dass diese Ära jetzt auch wirklich zu Ende gehen muss.
Liverpool und das Wir-gegen-die-Welt-Prinzip
Doch letztlich sind solche Episoden nicht mehr als Fußnoten. Austrudeln? Wer das annimmt, kennt diesen Klub schlecht und hat keine Vorstellung davon, was Jürgen Klopp dort ausgelöst hat. Als er anfing, war nicht nur die Mannschaft erfolglos, da wirkte auch der Mythos Liverpool fast klinisch tot. Wenn er nun geht, wird er in der Ahnengalerie bei Bob Paisley eingereiht, dem „Manager“ von drei Europokaltiteln, oder bei Kenny Dalglish, dem größten Spieler der Klubgeschichte und später ebenfalls erfolgreichen Trainer.
Ja, manche stellen den „German“ sogar auf eine Stufe mit dem legendären Bill Shankly, der nicht nur in einem berühmten Bonmot den Fußball als wichtiger als Leben und Tod definierte, sondern vor allem die Liverpooler Klubkultur prägte – sozial und leidenschaftlich, generös in Aufwand und Teamspiel, eine verschworene Familie, so solidarisch wie die Industriearbeiterschaft der Stadt. „You’ll never walk alone“: Shankly war es auch, der den vielzitierten Song 1963 gleich als Klubhymne einführte, als ihm Gerry & the Pacemakers die noch unveröffentlichte Single vorspielten.
1974 ging Shankly. Exakt ein halbes Jahrhundert danach geht Klopp.
Es wird also emotional werden an der Anfield Road, das war klar, seit er Ende Januar seinen Abschied angekündigte. „Die Außenwelt wird meine Entscheidung dazu nutzen, uns nervös zu machen, uns auszulachen“, sagte er dazu in bester Shankly-Tradition. „Aber wir sind Liverpool, wir sind zusammen schon durch härtere Zeiten gegangen. Lasst uns daraus eine Stärke machen! Lasst uns noch einmal alles herausquetschen!“
Das Wir-gegen-die-Welt-Prinzip ist in Liverpool noch beliebter als sowieso im Fußball. Anti-Establishment-Haltung schwängert die Luft an der Anfield Road. Dies ist ein Klub, in dem als Referenz zu den vielen Einwanderern von jenseits der See mehr irische Fahnen geschwenkt werden als englische. Der von Schotten geprägt wurde, Shankly und Dalglish vorneweg. Und der in seiner traurigsten Stunde von den Behörden Ihrer Majestät und dem Populärblatt „Sun“ für die Stadionkatastrophe von Hillsborough mit 97 Toten im April 1989 an den Pranger gestellt wurde – erst 27 Jahre später stellte eine Untersuchungskommission richtig, dass Polizeifehler sie verursacht hatten.
Die Selbstwahrnehmung als Vertreter des Guten, Wahren und Echten im Fußball ist nicht immer restlos ausbalanciert (über die von Liverpool-Hooligans ausgelöste Heysel-Tragödie mit 39 Toten 1985 wird weniger geredet), aber ungemein kraftvoll. Klopp schenkte ihr seine Kompetenz und sein Charisma. Der „Normal One“ konnte sogar vergessen lassen, dass auch Liverpool längst einem opaken amerikanischen Fonds gehört, der so viel mit Shankly zu tun hat wie Cristiano Ronaldo mit Franz von Assisi. Doch längere Anfeindungen musste die Fenway Sports Group nicht mal erdulden, als sie 2021 vorübergehend zu den Sezessionisten der europäischen Superliga gehörte. Ein reuiges Homevideo von Eigentümer John W. Henry genügte, und der scheue Investor konnte sich wieder bequem hinter Klopps Glanz zurückziehen.
Gerade in den Anfangsjahren bewies der Deutsche außerdem sein schon in Dortmund so frappierendes Talent der Fußballer-Alchemie. Er machte Spitzenspieler aus Profis, die vorher und nachher oft buchstäblich nur zweitklassig waren. Klopp distanzierte in der Bundesliga den vielleicht stärksten FC Bayern der vergangenen 20 Jahre mehrmals mit Stammspielern wie Kevin Großkreutz, Neven Subotic oder Jakub Blaszczykowski. In Liverpool übernahm er ein Team ohne Wiedererkennungswert, das seit einem Jahrzehnt keinen der drei großen Titel gewonnen hatte. Seine Nuri Sahins und Lukasz Piszczeks dort hießen John Robertson, Joel Matip oder Georginio Wijnaldum. Dazu schlugen die wenigen teuren Schlüsseltransfers wie Abwehrchef Virgil van Dijk oder Torwart Allison voll ein.
Ohne das steinreiche Manchester City des genialen Pep Guardiola als Konkurrent wäre auf dem Zenit des Klopp-Teams sicher noch mehr herausgesprungen als 2019 ein Champions-League-Titel und 2020 die erste Meisterschaft seit 30 Jahren. Abreißen lassen musste Liverpool ironischerweise erst, als es ähnlich mit Geld um sich zu werfen begann wie der Rivale. Seit 2020 verzeichnet es mit 298 Millionen Euro minus sogar ein negativeres Transfersaldo als Dauermeister City im selben Zeitraum (281 Millionen). Ein Zeichen dafür, dass erst wieder etwas aufgebaut werden muss. Von „Liverpool 2.0“ sprach Klopp – und doch ist es verführerisch zu behaupten, dass dieses zusammengekaufte Team eben kein authentisches Klopp-Team mehr war. Seine klassische Handschrift sah man zuletzt eher an den integrierten Talenten aus dem Klubnachwuchs; sie waren es, die den Rotationswettbewerb Ligapokal gewannen.
Doch einer wie Klopp wird nie nur an Titeln gemessen, sondern am Gesamtkunstwerk. Große Vereine brauchen eine große Erzählung, und mehr noch als Teambuilder war er Klubarchitekt. Das betraf die harte Währung – Spielstil, Scouting, Trainingsmethoden –, aber eben auch die weiche. Dank seiner mitreißenden Persönlichkeit und dem Import deutscher Fanrituale stellte er die Kommunion der Anhängerschaft wieder her, die schon Shankly immer so am Herzen gelegen hatte. Und mit seinem „Heavy-Metal-Fußball“ nahm er, so schreibt der „Guardian“, „eine englische Spielweise von vor 40 Jahren, verjüngte sie, verpackte sie neu und verkaufte sie zurück an die Engländer“. Niederlagen konnte dem Spektakel nichts anhaben. Klopp und Liverpool: Das war wie eine Beziehung, von der weniger diese eine Fernreise in Erinnerung bleibt oder jener Hochzeitstag. Das Glück war jeder Tag, jede Woche, jedes Spiel.
Immer die Show zu schmeißen, kostete aber natürlich auch Kraft. Eine so überwältigende Figur wie Klopp steht automatisch im Mittelpunkt, doch in Dortmund assistierten ihm dabei auch noch weitere Sprachrohre wie Hans-Joachim „Aki“ Watzke oder Michael Zorc. Von den US-Eigentürmern in Liverpool war da nichts zu erwarten. Andererseits können Trainer in der Premier League so unbelästigt arbeiten wie in keiner anderen Spitzenliga. „1000-mal härter“ ist laut Guardiola etwa der Druck bei seinem Heimatklub FC Barcelona. Würde sich Klopp auch an so etwas herantrauen? Nach dem Sabbatical im neuen Haus auf Mallorca wird man es sehen.
In Liverpool jedoch ist es Zeit zum Abschied. Nicht die Außenwelt machte Klopps Wagenburg letztlich nervös – der Nachfolger Arne Slot von Feyenoord Rotterdam wurde ohne großes Bohei bestimmt. Es war die Mannschaft selbst, die im Saisonfinale nichts mehr aus sich herausquetschen konnte.
Den ultimativen Beweis lieferte das 0:3 zu Hause gegen Bergamo, nachdem schon in der Champions League der Vorsaison zu Hause nach einem 2:5 gegen Real Madrid Schluss war. Klopp hatte der Anfield Road den Schrecken zurückgegeben, allen voran im magischen 4:0-Halbfinale gegen Barcelona 2019. Am Ende verlor sie ihn wieder. Der Kreis schließt sich.
„Ich bin froh, dass er geht: Er ist verdammt zu groß, die Zähne sind zu weiß“, verabschiedete ihn der West-Ham-Kollege David Moyes mit schottischem Humor. Doch so richtig gehen wird Jürgen Klopp aus Liverpool nie. Schon gar nicht allein.