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Ausland Wahl in Großbritannien

„Noch nie so viele Lügen“ – In einem Wahlkreis zeigt sich der Absturz der Konservativen besonders

Korrespondentin in London
Mit allen Mitteln: Der britische Premierminister Rishi Sunak präsentiert sich bei einem Besuch in Macclesfield bodenständig Mit allen Mitteln: Der britische Premierminister Rishi Sunak präsentiert sich bei einem Besuch in Macclesfield bodenständig
Mit allen Mitteln: Der britische Premierminister Rishi Sunak präsentiert sich bei einem Besuch in Macclesfield bodenständig
Quelle: Carl Court/Getty Images/REUTERS
Nach 14 Jahren an der Macht stecken die britischen Konservativen in der Krise – und könnten nach der Wahl am Donnerstag ins Bodenlose fallen. Wie es zum Absturz kommen konnte, zeigt der Besuch in einer nordenglischen Tory-Hochburg, wo Bürger der Regierung nicht mehr zutrauen, die Probleme zu lösen.
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Für David Rutley hatte der Abend bereits holprig begonnen. Noch bevor der Parlamentskandidat der britischen Konservativen bei einer Wahlveranstaltung im nordenglischen Macclesfield die erste Frage aus dem Publikum vollständig beantwortet hatte, hallten Gelächter und empörte Rufe durch den voll besetzten Kirchensaal.

Die Anwohner hatten wissen wollen, warum die Gesundheitsversorgung in seinem Wahlkreis seit Jahren unterfinanziert sei. Sein Versprechen, dies zu ändern, stieß auf Unglauben.

Voll besetzter Kirchensaal in Macclesfield
Voll besetzter Kirchensaal in Macclesfield
Quelle: Mandoline Rutkowski

Selten haben die Bürger der Stadt auf einen konservativen Politiker so abfällig reagiert. Seit 1918 vertreten Tory-Abgeordnete die 54.000-Einwohner-Stadt, Rutley sitzt seit 2010 für den Wahlkreis im britischen Unterhaus. Macclesfield, eine überwiegend weiße Mittelschichtstadt, ist damit einer von 94 britischen Wahlkreisen, in denen nach Angaben von „Politico“ seit über 50 Jahren konservativ gewählt wird. Insgesamt gibt es 650 Wahlkreise.

Doch schon bald könnten viele dieser Hochburgen eine historische Wende erleben und ihre konservative Führung Geschichte sein. Am Donnerstag finden in Großbritannien Unterhauswahlen statt, und die regierenden Konservativen von Premierminister Rishi Sunak liegen in Umfragen weit abgeschlagen hinter der Labourpartei von Keir Starmer. Selbst in konservativen Bastionen bröckelt die Unterstützung.

Das zeigt sich besonders in Macclesfield: Konnte Parlamentskandidat Rutley bei den Wahlen im Jahr 2019 noch über 52 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, liegt er laut einer Prognose derzeit bei 30 Prozent. Vor ihm rangiert Labour-Kandidat Tim Roca mit 39 Prozent. Aufgrund des britischen Mehrheitswahlrechts würde dieser Wahlausgang den Einzug des Sozialdemokraten ins Londoner Unterhaus bedeuten, während Rutley leer ausgeht.

Dass selbst in Orten wie Macclesfield das Fundament der Partei erodiert, ist auch in der Londoner Parteizentrale angekommen: Sunak höchstpersönlich besuchte kürzlich die Stadt in dem verzweifelten Versuch, wenigstens die alteingesessenen Anhänger noch hinter sich zu versammeln. An einen Sieg glaubt die Partei offenbar nicht mehr.

Die Hochphase der britischen Konservativen dürfte Ende der Woche vorbei sein. Noch vor vier Jahren hatte der damalige Premierminister Boris Johnson mit Brexit-Wohlstandsversprechen einen Erdrutschsieg bei den Unterhauswahlen errungen. Auch bei der Frage, wie der Höhenflug der Partei mit so einer Bruchlandung enden und sich selbst die treuesten Konservativen von ihrer Partei abwenden konnte, lohnt ein Blick in die nordenglische Stadt.

„Die Konservativen haben es total verbockt, ich kann ihnen nicht mehr vertrauen“, so bringt es ein ehemaliger Parteianhänger im Stadtzentrum auf den Punkt. Die Liste der Fehltritte der Partei sei lang: Johnson mit seinen illegalen Lockdown-Partys, seine Nachfolgerin Liz Truss mit ihrem Minibudget, das die britische Wirtschaft in eine Abwärtsspirale trieb, und dann Sunak, der erfolglos versuchte, alles wieder in Ordnung zu bringen.

Die Briten sind der Tories überdrüssig. Selbst eingefleischte Konservative können nicht mehr darüber hinwegsehen, dass von Johnsons Versprechen wenig übrig ist: eine blühende Wirtschaft, mehr Arbeitsplätze und Bildungschancen, eine bessere Gesundheitsversorgung. Tatsächlich geht es den Briten heute schlechter als damals.

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Großbritanniens Wirtschaft stottert nach Brexit, Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg wie ein abgenutzter Motor, der öffentliche Dienst ist unterfinanziert, die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt ist mangels staatlicher Investitionen und Regulierung so hoch, dass die Preise explodieren und immer mehr Briten buchstäblich auf der Straße landen.

„Die sind doch alle gleich schlimm“

Parteichef Sunak scheint den Wählern in Macclesfield nicht der richtige Mann zu sein, um diese Probleme zu lösen. „Sunak lebt auf einem anderen Planeten“, sagt der aus Schottland stammende John, der am Stadtrand wohnt, und spielt damit auf das Millionenvermögen des Ex-Bankers an. „Er ist immun gegen die Probleme, die normale Menschen haben.“ Statt das Land voranzubringen, habe Sunaks Partei es weiter ins Elend geritten: „Ich habe noch nie so viele Lügen und Täuschungen erlebt wie in den letzten Jahren“, schimpft er.

Die Partei habe Unsummen verschwendet, etwa durch einen Skandal während der Corona-Pandemie, bei dem konservative Abgeordnete Geld für staatliche Maskenverträge in die eigene Tasche steckten, oder durch ein teures Einwanderungsgesetz, mit dem illegale Einwanderer ins ostafrikanische Ruanda ausgeflogen werden sollten. Tatsächlich kostete das Gesetz den britischen Steuerzahler bis Ende vergangenen Jahres rund 240 Millionen Pfund (283 Millionen Euro), doch kein einziger Migrant wurde bisher im Rahmen des Abkommens außer Landes gebracht.

Doch auch die Frage nach alternativen Kandidaten stößt bei vielen Einwohnern von Macclesfield auf resigniertes Schnauben. Fast die Hälfte der Menschen, mit denen WELT an diesem Montag spricht, ist unsicher oder will gar nicht wählen gehen. „Die sind doch alle gleich schlimm“, lautet der Tenor. Einige überlegen, in diesem Jahr eine Randpartei zu unterstützen.

In landesweiten Umfragen liegt die rechtspopulistische Reform UK des EU-Skeptikers Nigel Farage mit rund 17 Prozent an dritter Stelle, gefolgt von den Liberaldemokraten (12 Prozent) und den Grünen (6 Prozent). Auch in Macclesfield wird die Rangfolge den Prognosen zufolge so aussehen. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts werden diese Parteien jedoch nur schwach im Unterhaus vertreten sein.

Andere wollen dieses Jahr Labour wählen. So wie John, der sich wegen der Brexit-Kampagne der Konservativen von der Partei abgewandt hat: „Labour ist die einzige Partei, mit der wir eine Chance haben, in die EU zurückzukehren“, sagt er. In der Tat gilt Labour als proeuropäisch, doch im Wahlkampf stellt Parteichef Starmer lediglich eine „engere Beziehung zur EU“ in Aussicht.

John ist es ohnehin am wichtigsten, dass die Tories aus der Regierung verschwinden, auch deshalb wählt er die aussichtsreichste Alternative. Die Absicht, taktisch zu wählen, kommt in Gesprächen mit Briten in diesen Tagen häufig zum Ausdruck: Zwar sind die Sozialdemokraten unter Starmer – der die Partei vom Linkskurs seines Vorgängers Jeremy Corbyn zurück in die Mitte führte – für sozialkonservative Briten deutlich wählbarer geworden. Für viele geht es aber vor allem darum, die Konservativen nach 14 Jahren Regierungszeit loszuwerden.

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Doch in Macclesfield ist die konservative Basis noch nicht ganz verstummt. In den hinteren Reihen der Kirche im Stadtzentrum verteidigen zwei Tory-Wähler den Kurs ihrer Partei. „Sie hatten Pech mit der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg, aber langsam scheinen wir wieder auf die Beine zu kommen. Labour würde alles kaputt machen, sie haben keine Ideen, sondern kritisieren nur“, sagt eine Seniorin.

Tatsächlich ist die britische Wirtschaft nach Angaben des nationalen Statistikamts (ONS) in den ersten drei Monaten des Jahres um 0,7 Prozent gewachsen. Ein kleiner Erfolg, den hier aber kaum jemand bejubelt. Den meisten Applaus bekommt an diesem Abend eindeutig ein Kandidat: Tim Roca von der Labourpartei.

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