Mit strahlendem Blick feiert Labour-Chef Keir Starmer seinen Sieg bei der britischen Parlamentswahl. Der 61-Jährige und seine Partei feiern einen beispiellosen Triumph. Landesweit erobern die Sozialdemokraten zahlreiche Wahlkreise von den Konservativen des schwer geschlagenen Premierministers Rishi Sunak, denen nun ein Richtungsstreit droht. Am Freitag dürfte König Charles III. Starmer offiziell mit der Regierungsbildung beauftragen.
„Der Wandel beginnt jetzt“, rief Starmer in London jubelnden Anhängern zu. „Im ganzen Land werden die Menschen zu der Nachricht aufwachen, erleichtert, dass eine Last von ihren Schultern genommen wurde.“
Der Nachwahlbefragung zufolge fährt die konservative Regierungspartei von Premierminister Sunak das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Für den Regierungschef ist es mehr als nur eine Wahlschlappe, es ist eine Demütigung – zumal Sunak die Wahlen, die eigentlich erst Anfang 2025 stattgefunden hätten, ohne Not auf Anfang Juli vorzog. Ein Kalkül das nicht aufging.
Seine Partei steht nun vor einer kompletten Neuordnung, denn Sunak, der am Freitag bei König Charles III. seinen Rücktritt als Premierminister einreichte, kündigte in London an, den Parteivorsitz abgeben zu wollen. Er werde als Parteichef zurücktreten, sobald die formalen Regelungen für die Nachfolge geklärt seien, sagte er. Zudem bat er die Briten um Entschuldigung: „Dem Land möchte ich zuallererst sagen: Es tut mir leid. Ich habe in diesem Job alles gegeben, aber Sie haben ein klares Signal gesendet, dass sich die Regierung des Vereinigten Königreichs verändern muss. Ich habe Ihren Ärger und Ihre Enttäuschung gehört und übernehme die Verantwortung.“
„Die Labour-Partei hat diese Parlamentswahl gewonnen, und ich habe Sir Keir Starmer angerufen, um ihm zu seinem Sieg zu gratulieren“, sagt Sunak sichtlich niedergeschlagen. Er deutet seinen Rückzug von der Parteispitze an.
Die jüngste BBC-Prognose sieht Labour bei 410 der 650 Sitze im Unterhaus (House of Commons) und damit fast doppelt so viel bei der Wahl 2019 mit 202 Mandaten. Die Konservativen brechen demnach von 365 auf 114 Sitze ein. Die Regierungsmehrheit von Labour wäre damit doppelt so groß wie die der Konservativen bisher. Als drittgrößte Partei stehen die Liberal Democrats bei 70 Sitzen (plus 62).
Viele Stimmen verloren die Konservativen an die rechtspopulistische Partei Reform UK, die voraussichtlich vier Sitze gewann. Deren Vorsitzender Nigel Farage, der einst den Brexit maßgeblich vorangetrieben hatte, schaffte es im achten Anlauf erstmals ins Unterhaus.
Die Auszählung dauerte am Morgen weiter an, doch am wichtigsten Ergebnis der Wahl zweifelt niemand mehr: Die 14 Jahre währende Dominanz der konservativen Tories ist krachend beendet. Als mögliche Nachfolgerinnen Sunaks an der Parteispitze gelten Wirtschaftsministerin Kemi Badenoch und Ex-Innenministerin Suella Braverman, die beide zum rechten Parteiflügel gehören.
Starmer: „Menschen sind bereit für den Wandel“
In seiner ersten Reaktion versprach der designierte Premier Starmer Veränderungen im Land. „Die Menschen haben gesprochen, sie sind bereit für den Wandel. Sie haben abgestimmt und es ist an der Zeit, dass wir liefern“, sagte er.
Der Labour-Chef siegte in seinem Londoner Wahlkreis Holborn and St Pancras deutlich. Allerdings verlor er im Vergleich zur vorigen Abstimmung 2019 rund 17 Prozentpunkte. Das lag vor allem an der hohen Zustimmung für einen unabhängigen Kandidaten, der sich deutlich gegen das israelische Vorgehen im Gazastreifen ausgesprochen hatte. Der Labour-Spitzenpolitiker Jonathan Ashworth verlor sogar überraschend seinen Wahlkreis an einen propalästinensischen Bewerber und hat damit kaum mehr Chancen auf einen Kabinettsposten.
Für Sunaks Konservative gleicht die Wahl einem Alptraum. „Erdrutsch“ und „Massaker“ lauten einige Schlagzeilen der britischen Presse nach Bekanntwerden des Desasters. Mehrere Kabinettsmitglieder verloren ihre Sitze, darunter Verteidigungsminister Grant Shapps, Bildungsministerin Gillian Keegan sowie Penny Mordaunt – die Ministerin für Parlamentsfragen galt bisher als Favoritin auf Sunaks Nachfolge.
Auch die frühere britische Premierministerin Liz Truss ging leer aus. Die 48-Jährige musste sich in ihrem Wahlkreis dem Herausforderer der Labour-Partei geschlagen geben. Die konservative Politikerin ist als Premierministerin mit der kürzesten Amtszeit Großbritanniens in die Geschichte eingegangen. Sie behielt die Schlüssel zum Regierungssitz 10 Downing Street nur 49 Tage lang, nachdem sie 2022 Boris Johnson beerbt hatte.
„Für mich ist klar, dass Labour die Wahl heute Abend nicht gewonnen hat, sondern dass die Tories sie verloren haben“, sagte Shapps. „Wir haben eine grundlegende Regel der Politik vergessen. Die Leute wählen keine gespaltenen Parteien.“ Kommentatoren erwarten nun einen regelrechten „Bürgerkrieg“ unter den Tories.
Mandate verloren haben die Konservativen wohl nicht nur an Labour. Auch die Liberaldemokraten scheinen erhebliche Zugewinne auf Kosten der Tories verbuchen zu können. Sie kommen laut der jüngsten BBC-Prognose auf 56 Sitze – bisher waren es nur 11. Seine Partei sei auf Kurs zu ihrem besten Ergebnis in einem Jahrhundert, frohlockt LibDem-Chef Ed Davey.
Verheerende Niederlage für schottische SNP
Auch für die schottische Unabhängigkeitspartei SNP sieht es nach einer verheerenden Niederlage aus. Sie sackt der Prognose zufolge von 48 auf 6 Mandate ab – ein „sehr schwaches“ Ergebnis, wie der schottische Regierungschef John Swinney einräumt.
Als Sieger fühlen sich hingegen die Rechtspopulisten um Farage, auch wenn sie nur wenige Mandate erhalten. Denn im britischen Mehrheitswahlrecht gewinnt die Kandidatin oder der Kandidat mit den meisten Stimmen den Wahlkreis – alle anderen Stimmen haben keine Auswirkung. Farage dürfte mit seiner überraschenden Kandidatur erheblich zum schlechten Ergebnis der Konservativen beigetragen haben, weil er ihnen Wähler am rechten Rand abspenstig machte.
Überraschend ist das Debakel der Tories nicht: Meinungsforscher sahen den deutlichen Sieg der Sozialdemokraten lange kommen. Im Wahlkampf konnte Sunak kaum aufholen. Seine Partei hatte mit Pannen und einem Skandal um illegale Wetten auf den mutmaßlichen Wahltermin zu kämpfen.
Verantwortlich für den klaren Ausgang der Wahl ist nach Ansicht des renommierten Meinungsforschers John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow nicht in erster Linie Begeisterung für Labour, sondern Verdruss über die bisherige Regierungspartei. Sunak war bereits der dritte Regierungschef seiner Partei in der vergangenen Legislaturperiode, die von wirtschaftlicher Stagnation und stark steigenden Lebenshaltungskosten geprägt war.
Starmer führte seine Arbeiterpartei in den vergangenen Jahren wieder in die politische Mitte, nachdem sie unter seinem Vorgänger Jeremy Corbyn – dem nun als Unabhängigen die Wiederwahl gelang – weit nach links gerückt war. Zudem ging er entschieden gegen antisemitische Tendenzen in den eigenen Reihen vor.
Was politische Inhalte angeht, blieb der bisherige Oppositionschef Starmer in vielen Bereichen eher vage. So ging er bei seinen Plänen für eine mögliche Annäherung mit der Europäischen Union nicht ins Detail. Auch in anderen Fragen schien er bislang vor allem darauf bedacht, moderat zu bleiben, keine Angriffsfläche zu bieten und potenzielle Wähler nicht zu verschrecken. Manche Kommentatoren vergleichen seine behutsame Art deshalb mit dem Tragen einer Porzellanvase aus der chinesischen Ming-Dynastie.