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Ausland Wahlen in Großbritannien

„Die Regierung in London interessiert sich nicht für uns, sie schaut auf uns herab“

Korrespondentin in London
Läden im Zentrum von Stoke-on-Trent Läden im Zentrum von Stoke-on-Trent
Läden im Zentrum von Stoke-on-Trent
Quelle: Mandoline Rutkowski
England ist gespalten in den verarmten Norden und den wohlhabenderen Süden. Ein Besuch zeigt, wie enttäuscht die Menschen im Norden von den Konservativen sind. Es steht eine Richtungswahl an – wenn Labour eine bestimmte Chance nutzt.
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Am Bahnhof von Stoke-on-Trent erinnert eine Statue des berühmtesten Sohnes der Stadt an ihren einstigen Ruhm. Der Töpferunternehmer Josiah Wedgwood, geboren 1730, ließ die Stadt Stoke-on-Trent, drei Autostunden nordwestlich von London in den Midlands gelegen, einst zum Zentrum der englischen Keramik- und Porzellanindustrie aufsteigen.

Hier florierte der Exportmarkt für Teller, Schüsseln und Vasen, Fabriken entstanden im Eiltempo, Arbeiter strömten in die prosperierende Industriestadt. Heute ist „Stoke“, wie es seine rund 250.000 Einwohner nennen, eine der ärmsten Städte des Landes, fast jedes vierte Kind lebt in Armut.

Im Zentrum der Stadt spiegelt sich dieser Niedergang wider. An Häuserfassaden kriecht der Schimmel empor, in der Fußgängerzone reihen sich geschlossene Läden und Kneipen mit vernagelten Fenstern aneinander. Mancherorts findet sich noch eine kleine Töpferei. An diesem düsteren Tag brennt in keiner von ihnen Licht.

Stoke-on-Trent steht stellvertretend für viele ehemalige Industrieregionen Englands, die einst als Motor der britischen Wirtschaft galten und heute arm, abgehängt und vergessen sind. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts boomten in Wales, Mittel- und Nordengland die Keramik-, Kohle-, Stahl-, Textil- und Schiffbauindustrie. Doch die Wucht der Deindustrialisierung und Globalisierung traf die monostrukturierten Industrieregionen besonders hart. Produktionen wurden ins Ausland verlagert, Betriebe geschlossen, die Arbeitslosigkeit stieg – und der Abwärtstrend setzte ein.

Der Staat schaute all dem weitgehend tatenlos zu. Statt die in Bedeutungslosigkeit versinkenden Regionen zu fördern, wurde in den Dienstleistungssektor Südenglands und das Finanzzentrum London investiert. Die Folge: Während der Süden aufblühte, verarmten die nördlichen Gebiete.

Die Briten spüren diese regionalen Ungleichheiten in jeder Facette ihres täglichen Lebens. Studien zeigen, dass Nordengländer im Durchschnitt ärmer und häufiger arbeitslos sind und früher sterben als ihre Landsleute im Süden – im Schnitt rund drei Jahre eher. Daran haben auch die seit 14 Jahren regierenden Konservativen, die derzeit von Premierminister Rishi Sunak angeführt werden, nichts ändern können. Im Gegenteil: Laut der britischen Denkfabrik New Economics Foundation sank das Jahreseinkommen einer Familie zwischen 2015 und 2024 im Nordosten um mehr als 1300 Pfund (1530 Euro).

Das Nord-Süd-Gefälle in England sei inzwischen größer als das „zwischen Ost- und Westdeutschland“, sagte Ed Balls, ehemaliger Kabinettsminister der Labour-Partei unter Tony Blair, in einem Podcast der britischen Zeitung „i“.

Die Briten im Norden sind frustriert und warten nur darauf, ihrem Ärger bei den Unterhauswahlen am 4. Juli Luft zu machen. Das wird im Gespräch mit Corinne Boden, einer Bewohnerin von Stoke-on-Trent deutlich. „Die Regierung in London interessiert sich nicht für uns, sie schaut auf uns herab“, schimpft sie. WELT trifft Boden in einem Gemeindezentrum in Stoke-on-Trent. Hier koordiniert sie eine Tafel, die Bedürftige mit Lebensmitteln versorgt. Arbeitslosigkeit, Armut, fehlende Bildungschancen, Einsamkeit – die Liste der Probleme, mit denen die Besucher zu kämpfen haben, sei lang. „Wenn du vom Süden in den Norden kommst, ertrinkst du.“

Corinne Boden engagiert sich in einem Gemeindezentrum in Stoke-On-Trent
Corinne Boden engagiert sich in einem Gemeindezentrum in Stoke-On-Trent
Quelle: Mandoline Rutkowski

An Hilfe von der konservativen Regierung glaubt sie schon lange nicht mehr. „Ich habe seit Jahren nichts von nennenswerten Investitionen in Stoke gehört. Die stecken ihr Geld lieber in teure Eliteuniversitäten für ihre Sprösslinge und in Londoner Firmen.“ Boden ist treue Labour-Wählerin, auch in diesem Jahr will sie die Sozialdemokraten wählen. Es sei die einzige Partei, die ihr Hoffnung gebe, sagt sie.

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Damit vertritt sie den breiten Konsens in den ehemaligen Industrieregionen, üblicherweise stimmen die Menschen hier mehrheitlich für die Arbeiterpartei. Aber auch landesweit sieht es derzeit gut aus für Labour, in den Umfragen liegt die Partei von Keir Starmer rund 20 Prozentpunkte vor den Konservativen.

Vor knapp fünf Jahren sah das noch anders aus. Bei den Unterhauswahlen verloren die Sozialdemokraten haushoch gegen die Konservativen – auch weil viele traditionelle Labour-Wähler in den alten Industrieregionen der Midlands und Nordenglands zu den Konservativen übergelaufen waren. Die „rote Wand“ war durchbrochen, wie britische Medien in Anspielung auf die Farbe der Labour-Partei titelten. Dieses Novum führte den etablierten Parteien vor Augen, wie bedeutend der Einfluss dieser Regionen mit Blick auf die Wahlen sein kann.

Leeres Geschäft im Zentrum
Leeres Geschäft im Zentrum von Stoke-On-Trent
Quelle: Mandoline Rutkowski

Die Ursachen für die Wählerwanderung lagen tief in der jahrzehntelangen Vernachlässigung. Im Wahlkampf knüpfte der damalige Premierminister Boris Johnson geschickt an die Abstiegsängste an, indem er versprach, den Brexit „durchzuziehen“ („Get Brexit Done“) und damit den Wohlstand in den ärmeren Regionen zu fördern. Er stilisierte sich als Heilsbringer, der durch den EU-Austritt die Zuwanderung begrenzen, neue Arbeitsplätze für einheimische Briten schaffen und mehr in den öffentlichen Dienst investieren würde.

Unter dem griffigen Slogan „Levelling Up“ (Angleichung) kündigte er zudem einen milliardenschweren Investitionsfonds für mehr Lebensqualität in vernachlässigten Regionen an, etwa durch besseren öffentlichen Nahverkehr, kulturelle Angebote und neue Geschäfte in den Innenstädten. Diese Wohlstandsversprechen verfingen bei sozial-konservativen Labour-Wählern.

„Johnson lieferte einen guten Pitch ab“

Der damalige Labour-Chef Jeremy Corbyn verprellte hingegen gerade diese Stammwähler, indem er die Partei nach links rückte. Er nahm eine ambivalente Haltung zum Brexit ein, propagierte eine liberale Einwanderungspolitik, kritisierte die militärische Aufrüstung und forderte eine teure Renationalisierung von Schlüsselindustrien. All das kam bei der Basis nicht gut an.

„Corbyn war der Grund, warum ich nicht für Labour stimmen konnte“, sagt Simon, 40, aus dem nordenglischen Lancashire am Telefon. Der Brexit-Befürworter machte 2019 erstmals sein Kreuz bei den Konservativen, weil er sich an Corbyns Vorschlag eines zweiten EU-Referendums störte, bei dem sich der Parteichef selbst enthalten wollte.

Johnson hingegen lieferte „einen guten Pitch ab“, erinnert sich der krankheitsbedingt pensionierte Busfahrer. Er glaubte an Johnsons Versprechen, dass eine Begrenzung der Einwanderung bessere Chancen für seine Heimatstadt und für seine sechs Kinder bedeuten würde. Heute bereut er seine Wahl. „Wir wurden belogen. Nichts wurde umgesetzt.“

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Tatsächlich ist von Johnsons Zusagen nicht viel übrig geblieben. Der einst populäre Politiker ist wegen peinlicher Lockdown-Partys längst politische Vergangenheit. Die Wirtschaft lahmt und die Einwanderung nach Großbritannien ist auf Rekordniveau, weil viele Briten schlecht bezahlte Jobs nicht machen wollen. Vom versprochenen Geld ist wenig in den armen Landesteilen angekommen. Kommunen klagen über unübersichtliche und teure Antragsverfahren und lange Verzögerungen.

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Laut „Guardian“ wurden von den 4,8 Milliarden Pfund (5,6 Milliarden Euro), die im Rahmen des „Levelling Up“-Fonds bereitgestellt wurden, erst 809 Millionen Pfund (955 Millionen Euro) ausgezahlt. WELT hätte dazu gerne mit Vertretern des zuständigen Ministeriums gesprochen, zahlreiche Anfragen blieben unbeantwortet.

Der damalige Vertrauensvorschuss, den viele Labour-Wähler in den Regionen der „roten Wand“ den Konservativen gegeben hatten, ist verspielt. Gaben vor den Wahlen 2019 noch 47 Prozent an, konservativ wählen zu wollen, waren es im Mai dieses Jahres nur noch 22 Prozent, wie eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Redfield and Wilton Strategies ergab. „Ich kann die Wahlen kaum erwarten“, sagt Busfahrer Simon, der in diesem Jahr wieder für die Sozialdemokraten stimmen wird.

Labour-Chef Starmer sei zwar „gesichtslos“, aber immer noch besser als der ehemalige Bankier Sunak, der so reich sei, dass er „den Bezug zur Gesellschaft verloren“ habe. In Gesprächen mit Nordengländern wird dieses Motiv immer wieder ins Feld geführt: Nicht der als langweilig empfundene Starmer überzeugt, Labour zu wählen, sondern die Antipathie gegenüber den Konservativen.

Straßenszene in Stoke-on-Trent
Straßenszene in Stoke-on-Trent
Quelle: Mandoline Rutkowski

Auch Labour hat im Falle eines Wahlsieges Investitionen für die verarmten Regionen versprochen. Mit der „Bettelkultur“ will die Partei brechen, Mittel sollen künftig unbürokratischer, langfristig und ohne Antragsverfahren an die Kommunen vergeben werden. Darüber hinaus sollen Milliarden in die Schaffung neuer Arbeitsplätze und in grüne Industrien investiert werden. Angesichts der leeren Staatskassen und der tief greifenden Probleme ist jedoch nicht mit einem schnellen Wandel zu rechnen.

Doch für manche kommen diese Wahlversprechen zu spät, wie sich in Stoke-on-Trent zeigt. Auf die Frage, wen er dieses Jahr wählen werde, antwortet ein Besucher des Gemeindezentrums: „Wählen? Das ist sinnlos“, sagt er und winkt ab. „Weder Labour noch die Konservativen scheren sich einen Dreck um uns.“

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