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  4. Obdachlosigkeit: Die erste Krise, die der neue britische Premier lösen muss

Ausland Großbritannien

Schwarzer Schimmel, Kakerlaken – Im Epizentrum der Wohnungsnot

Korrespondentin in London
Sozialwohnungen im Londoner Stadtteil Bermondsey Sozialwohnungen im Londoner Stadtteil Bermondsey
Sozialwohnungen im Londoner Stadtteil Bermondsey
Quelle: Mandoline Rutkowski
In Großbritannien trifft eine anhaltende Inflation auf einen historisch unterversorgten Wohnungsmarkt. Die Folgen sind dramatisch: Nicht nur die Zahl der Obdachlosen ist auf einen Höchststand gestiegen, auch immer mehr Familien verlieren ihr Zuhause. Einblicke in ein kaputtes System.
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Nur ein Pappkarton trennt den Mann vom kalten Asphaltboden. Sein Gesicht ist kaum zu erkennen, so tief hat er sich in seinen Schlafsack gegraben, den Kapuzenpullover tief ins Gesicht gezogen. Ein verzweifelter Versuch, sich vor der Kälte zu schützen, die mit Einbruch der Dunkelheit über den Londoner Stadtteil Wandsworth hereinbricht.

„Geht es dir gut, können wir dir helfen?“, fragt Queenslla Arthur. Die junge Frau steht einen Meter von dem Mann entfernt, der sein Nachtlager im Windschatten einer Lagerhalle aufgeschlagen hat. Er murmelt, er brauche keine Hilfe. Nach einigen weiteren Versuchen, ihn zum Reden zu bringen, gibt sie auf.

„Er hat abgebaut“, sagt sie wenig später im Auto mit trauriger Stimme, während sie sich Notizen auf einem Klemmbrett macht. Die 33-Jährige kennt den Mann. Seit drei Jahren arbeitet sie als Sozialarbeiterin für die Obdachlosenhilfe Spear. Auf ihren nächtlichen Patrouillen zu Hauseingängen, Brücken, beleuchteten Hauptstraßen ist sie ihm schon oft begegnet.

Helfer der Organisation Spear
Helfer der Organisation Spear
Quelle: Niki Bruckner/Spear

An diesem Abend begleitet WELT sie und zwei Kolleginnen auf ihrem Kontrollgang. Die Organisation ist erste Anlaufstelle für Obdachlose, hilft ihnen bei der Beschaffung von Ausweispapieren, stattet sie mit Schlafsäcken aus, vermittelt sie in Wohnheime. Letzteres ist derzeit besonders schwierig.

London ist Epizentrum einer Krise, die ganz Großbritannien erschüttert: Wohnungslosigkeit. In England allein schliefen im Jahr 2023 rund 4000 Menschen pro Nacht auf der Straße – ein Anstieg um 27 Prozent innerhalb eines Jahres. Besonders alarmierend ist, dass immer mehr Familien ihr Zuhause verlieren. Zwar greift das Sozialsystem in der Regel ein, bevor sie auf der Straße landen. Aufgrund des Mangels an Sozialwohnungen sind die Kommunen jedoch gezwungen, sie oft langfristig in beengten und ungeeigneten Notunterkünften wie Hostels oder Bed & Breakfasts unterzubringen.

In England lebten im vergangenen Sommer 109.000 Haushalte in solchen Einrichtungen, darunter befanden sich 142.490 Kinder – ein Anstieg um zehn Prozent. Hilfsorganisationen, die von weit höheren Zahlen ausgehen, sprechen von einem „nationalen Skandal“. Wenige Wochen vor den Parlamentswahlen am 4. Juli bringt die Krise die konservative Regierungspartei, die in den Umfragen weit abgeschlagen ist, weiter in Bedrängnis.

Nachts schlafen Obdachlose vor den Geschäften der noblen Oxford Street
Nachts schlafen Obdachlose vor den Geschäften der noblen Oxford Street
Quelle: JUSTIN TALLIS/AFP

Vor allem in der beliebten, dicht besiedelten und teuren Hauptstadt London ist die Not groß. Die Zahl der Obdachlosen liegt weit über dem Landesdurchschnitt. Die Ursachen für Obdachlosigkeit seien vielfältig, erklärt Sozialarbeiterin Arthur. Sie betreue Migranten mit unsicherem Aufenthaltsstatus und Menschen mit psychischen Problemen und Drogenabhängigkeit.

Derzeit würde ein bislang unterschwelliger Grund an Bedeutung gewinnen: die zunehmende Wohnungsknappheit bei steigenden Lebenshaltungskosten. Eine Wahrnehmung, die mit Untersuchungen übereinstimmt.

In Großbritannien trifft eine anhaltende Inflation auf einen historisch unterversorgten Wohnungsmarkt. Die Nachfrage steht dem Angebot diametral entgegen, was die Preise in die Höhe treibt. Laut der Denkfabrik Economic Observatory sind die Immobilienpreise in Großbritannien zwischen 1970 und 2022 real um 441 Prozent gestiegen, während die Zahl der jährlich gebauten Häuser um 46 Prozent von 378.300 auf 205.300 gesunken ist.

Ungebremster Anstieg der Mieten

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Nach Angaben der Immobilienwebsite Rightmove liegt die monatliche Durchschnittsmiete außerhalb von London bei 1290 Pfund (1525 Euro), in der Hauptstadt bei 2630 Pfund (3110 Euro). Im Jahr 2019 betrugen diese Werte noch knapp 800 (945 Euro) beziehungsweise 2090 Pfund (2470 Euro).

Weder die größte Oppositionspartei Labour noch die seit 14 Jahren regierenden Konservativen, die für ihre rigorose Sparpolitik bekannt sind, konnten in den vergangenen Jahrzehnten etwas an dieser Dynamik ändern. Derzeit ist die Lage ohnehin schwierig, weil die Staatskassen angesichts der Folgen von Brexit, Pandemie und Ukraine-Krieg leer sind.

Hinzu kommt, dass das Problem für die Konservativen keine Priorität zu haben scheint: Die Selbstverpflichtung, bis „Mitte der 2020er-Jahre“ jährlich 300.000 Wohnungen zu bauen, wird seit Jahren verfehlt. Zuletzt distanzierte sich Premierminister Rishi Sunak sogar von dem Versprechen.

In diese Lücke stoßen private Bauträger, die weitgehend unreguliert hohe Preise für ihre Immobilien verlangen können. Auch bei der Stärkung der Mieterrechte hinkt die Regierung hinterher. Die vor fünf Jahren versprochene Abschaffung der Befugnis für Immobilienbesitzer, ihre Mieter innerhalb von zwei Monaten ohne Angabe von Gründen aus der Wohnung zu werfen, liegt auf Eis. Zwischen 2019 und 2023 wurden dadurch rund 26.300 Haushalte zwangsgeräumt.

In Londoner Sozialwohnungen – hier im Stadtteil Bermondsey – müssen Familien aufgrund der hohen Nachfrage oft mit wenig Platz auskommen
In Londoner Sozialwohnungen – hier im Stadtteil Bermondsey – müssen Familien aufgrund der hohen Nachfrage oft mit wenig Platz auskommen
Quelle: Mandoline Rutkowski

Für immer mehr Briten bleibt nur der Wohlfahrtsstaat. Aber auch der ist unterfinanziert. Der Zustand der Sozialwohnungen ist oft miserabel, manchmal lebensgefährlich. Im Jahr 2020 starb ein zweijähriger Junge an den Folgen von Schimmelbefall in einer Sozialwohnung im englischen Rochdale. Wenn alle Plätze belegt sind, müssen die Kommunen bei der Verteilung auf provisorische Unterkünfte wie Hostels ausweichen, wo die Betroffenen im schlimmsten Fall mehrere Monate oder sogar Jahre auf eine dauerhafte Wohnung warten müssen. Auch hier sind die Wohnverhältnisse prekär.

Menschen wie Katie Mirabita und ihre achtjährige Tochter Scarlett sind die Leidtragenden dieses kaputten Systems. WELT trifft die kleine Familie in ihrer Wohnung in Bermondsey, einem Londoner Stadtteil mit einer historisch hohen Dichte an Sozialwohnungen.

Das Wohnzimmer sieht aus wie Räume eben aussehen, in denen Kinder aufwachsen: Buntes Spielzeug liegt verstreut auf dem Boden, an einem Wäscheständer trocknen Kleidungsstücke, auf der Heizung steht ein Bilderrahmen mit einem Foto von Mutter und Tochter.

Katie (rechts) und Scarlett in ihrer neuen Wohnung, auf die sie über sechs Jahre warten mussten
Katie (rechts) und Scarlett in ihrer neuen Wohnung, auf die sie über sechs Jahre warten mussten
Quelle: Mandoline Rutkowski
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Seit über einem Jahr leben die beiden hier. „Als ich den Anruf bekam, dass sie eine Wohnung für uns gefunden haben, habe ich vor Freude geweint“, erinnert sich die 29-jährige Katie Mirabita. Sie haben Glück: Ihre Sozialwohnung liegt in einem Neubau – im Gegensatz zu vielen anderen im Viertel.

Eine Lokalpolitikerin berichtet WELT bei einem Rundgang durch Bermondsey von Wohnungen, in denen schwarzer Schimmel die Wände hochkriecht, und von einem Gebäudekomplex, der wegen Asbest geräumt werden musste.

Problem für den nächsten Premierminister

Doch bis zu diesem Anruf war es für Mirabita ein langer Weg. Im Alter von 21 Jahren, Scarlett war gerade geboren, wurde sie von ihren Eltern vor die Tür gesetzt. Da die junge Mutter nicht genug Geld für eine eigene Wohnung aufbringen konnte, wandte sie sich an die Stadtgemeinde, die Mutter und Tochter mangels freier Sozialwohnungen in einem Hostel unterbrachte.

Aus der Übergangslösung wurden 13 Monate. Die Unterkunft sei heruntergekommen gewesen, sagt Mirabita. Und das Schlimmste: „Im Hostel wimmelte es von Kakerlaken. Es war schrecklich, sie waren überall in unserem Zimmer“, sagt sie heute und schüttelt sich.

Schließlich landeten sie – wieder vorübergehend – in einer Einzimmerwohnung, die „in Ordnung“ war, aber in einer zwielichtigen Gegend lag. Ihre Einkäufe erledigte sie deshalb lieber vor Einbruch der Dunkelheit. So richtig schafften sie es nie, sich dort einzuleben. „Ich dachte ja, wir würden bald umziehen.“

Fünf Jahre später erhielt sie den Anruf, der sie zu Tränen rührte. Mirabita ist dankbar, dass sie jetzt eine von der Stadt bezuschusste Langzeitwohnung hat. Angesichts der explodierenden Preise könnte sich die alleinerziehende Mutter, die Teilzeit arbeitet, auch heute keine Privatwohnung leisten.

Die Wohnungsnot ist inzwischen so dramatisch, dass viele Hilfsorganisationen auf ein radikales Eingreifen der Regierung hoffen. Ob es dazu kommt, wird sich nach den Wahlen am 4. Juli zeigen. Die Labourpartei, die in den Umfragen rund 20 Prozentpunkte vor den Konservativen liegt, hat angekündigt, in den ersten fünf Jahren einer möglichen Regierungszeit 1,5 Millionen Wohnungen zu bauen. Angesichts der desolaten Haushaltslage dürfte dies schwierig werden.

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