In einer Straße wie jeder anderen lebt ein Mann wie jeder andere. Er ist mittelgroß, dünn, aber nicht zu dünn, seine Haare sind braun und werden an den Schläfen weiß. Während er am Schreibtisch auf einen Anruf wartet, sitzt ihm eine seiner zwei Katzen auf dem Schoß, er krault sie am Kinn. Auf dem Wohnzimmertisch liegt ein Buch mit Zitaten von Gandhi, im Gartenteich schwimmen Goldfische. Wenn er die Nachbarn grüßt, lächelt er sie dabei an, sie beschreiben ihn als freundlich, aber zurückgezogen. Der Mann heißt Gary Johnson, aber seine Klienten kennen ihn als Mike Caine, Jody Eagle, oder Chris Buck. Sie rufen ihn an, wenn ein Geschäftspartner zu gierig wird, ein Ehemann untreu, die Ehefrau anstrengend, oder andersherum. Kurz: Wenn sie jemanden loswerden wollen. Gary Johnson ist einer der fähigsten Auftragskiller in Texas, denken sie.
So beginnt nicht der Film, um den es hier gehen soll, sondern ein Artikel des US-Magazins „Texas Monthly“, der im Oktober 2001 veröffentlicht wurde. Er erzählt die wahre Geschichte des Psychologie-Professors Gary Johnson, der in seinem zweiten Job als Lockvogel für die Polizei den Auftragskiller mimte, um so diejenigen zu überführen, die ihn anzuheuern versuchten. Es ist ein Stoff wie gemacht für Hollywood. Trotzdem hat es mehr als 20 Jahre gedauert, bis die Filmindustrie ihn gefunden hat. Genauer gesagt, bis Richard Linklater ihn gefunden hat. Bei dem Namen des Drehbuchautors und Regisseurs läutet vielleicht nichts, bestimmt aber bei den Titeln seiner Filme.
Nach „Before Sunrise“ (1995) waren alle in Ethan Hawke oder Julie Delpy verliebt, die zwei Fremde spielten, die sich auf einer langen Zugreise kennenlernen und in Wien verlieben. Weniger romantisch, dafür mit einer großen Liebe zur linkischen Jugend waren die Coming-of-Age-Geschichten „Dazed and Confused“ (1993) mit Matthew McConaughey und „Boyhood“ (2014), den Linklater mehr als zehn Jahre lang drehte und dem Schauspieler Ellar Coltrane dabei in Echtzeit beim Erwachsenwerden zusah.
In „A Killer Romance“ (im englischen Original: „Hitman“) beweist der in der Indiefilmszene verwurzelte Linklater erneut seine Liebe zu tapsigen Charakteren. Denn der von Glen Powell verkörperte Gary Johnson ist zunächst vor allem eins: ein vogelbeobachtender Fiat-Punto-Fahrer, dem nur die Cordhose fehlt. Gleichzeitig steht er mit Seitenscheitel und Brille vor seinen Studenten und erklärt ihnen mit Nietzsche, das Leben mit Leidenschaft zu leben. Er ist ein Mann, der keine Risiken mag, aber zufällig sehr gut in einem sehr gefährlichen Job ist. Nachdem er bei den Undercover-Einsätzen zunächst nur als Stratege dabei war, muss Gary eines Tages einspringen, als der eigentliche Lockvogel von der Arbeit suspendiert wird. Gary wird also verkabelt und in das Café geschickt, wo ein kaputter Typ sitzt und denkt, er treffe einen Auftragskiller. Der Psychologie-Professor stellt sich bei dem Rollenspiel als Bösewicht so gut an, dass die Polizei ihn nicht mehr gehen lassen will. Seine Karriere als Lockvogel beginnt.
Es ist die perfekte Konstellation für eine Screwball-Komödie, bevölkert voller komischer Typen – die alle von demselben Mann gespielt werden. Denn der Psychologiefreak Gary stürzt sich so sehr in die Vorbereitung dieser Treffen, dass er für jeden Klienten eine neue Killer-Persönlichkeit annimmt. Wie stellt sich die High-Society-Dame, die ihren Ehemann abmurksen will, einen Auftragsmörder vor? Wie die Hillbilly-Frau aus der Wohnwagensiedlung und wie der Killerspiel zockende Teenager, der keinen Bock mehr auf seine Mutter hat?
Glen Powell, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, ist bisher eher für kleinere Rollen bekannt. In „Top Gun“ spielte er neben Tom Cruise einen Jetpiloten. Die Figur des formwandelnden Auftragskillers setzt er aber so gut um, dass man tatsächlich immer wieder das Gefühl hat, es böte auf einmal ein anderer seine Dienste an. Seine Körperhaltung und Sprechweise verändern sich, die Maskenbildner erledigen den Rest. Es ist überraschend, was ein verrutschter Scheitel auszurichten vermag. Besonders schön ist die Szene, in der Gary mit roter Perücke, schwarzen Gummihandschuhen und Fistelstimme mit einem Klienten über seinen Auftrag spricht. Er sieht dabei so aus, als hätte er schon als Achtjähriger seine Meerschweinchen mithilfe des schulischen Chemiebaukastens in Salzsäure aufgelöst.
Wo das Böse lauert
Die Karriere von Gary Johnson läuft gut, bis er Madison begegnet. Eine junge Frau, die sich von ihrem angeblich missbräuchlichen Ehemann trennen will, in dem sie ihn ermorden lässt. Gary und Madison, die von der puerto-ricanischen Schauspielerin Adria Arjona gespielt wird, treffen sich im Café – und fangen an zu flirten. Nachdem Madison ihre Ehe beschreibt, bekommt Johnson Mitleid und redet ihr den Mordauftrag aus. Später meldet sie sich bei ihm, um sich zu bedanken, die beiden werden ein Liebespaar. Nur ist Madison nicht in den Vogelliebhaber und Psychologie-Professor Gary verliebt, sondern in Ron, den selbstbewussten Lederjackenträger, den er für sie zurechtgemodelt hatte. Es beginnt eine Art Dr. Jekyll und Mr. Hyde Geschichte. Allerdings sind Gary Johnsons zwei Gesichter eigentlich beide gut – das Böse ganz woanders.
Auch braucht Gary keinen Trank, um sich zu verwandeln. Er nutzt seine psychologischen Fähigkeiten und geht nach einem Erfolgsrezept vor, das sich genau so in Business-Ratgebern findet: „Fake it till you make it“, oder anders: „Tu so, als wäre es schon wahr.“ Das Mantra des „Tu so als ob“ ist der new-agigeren Praxis des „Manifestierens“ nicht fern, die derzeit auf Instagram-Kanälen von Influencern mit dem Schwerpunkt „persönliche Weiterentwicklung“ gepredigt wird: Stell dir deinen Traum ganz genau, in allen Farben, vor, rufe die Bilder immer wieder wach, mal dir aus, wie es sich anfühlt, wonach dein neues Leben riecht und es wird wahr. Eine andere Art von magischem Realismus.
Gary tut genau das, bevor er in eine neue Rolle schlüpft: Er visualisiert den Menschen, der er sein will. Meistens nur für ein Treffen, für Madison jedoch immer wieder und immer öfter. Und diese Killer-Figur unterscheidet sich von seinen anderen. Er wird nicht nur zu dem Mann, den Madison gerne hätte, sondern der er selbst gerne wäre. Je öfter er Ron mimt, desto mehr schleichen sich dessen Charaktereigenschaften in die von Gary ein und plötzlich finden ihn auch seine Kollegen interessanter.
So kreist der Film um die ewige Frage, ob der Mensch sich ändern kann. Wie viel von unserem Charakter der harte Kern ist und wo die weichen Stellen, die wir ein bisschen modellieren können. Zeigen wir nicht längst bei verschiedenen Freunden und Situationen verschiedene Seiten unserer Persönlichkeit? Gibt es einen Teil in uns, der einem Auftragskiller Geld in die Hand drücken würde, ginge es uns nur schlecht genug und würde er genau das Richtige sagen? Entlocken wir den Menschen ihr wahrstes Ich, wenn wir genau zu denen werden, die sie haben wollen?
Es sind Fragen, die der Film teilweise zu deutlich stellt, als dass der Zuschauer sich beim Philosophieren noch raffiniert vorkommen könnte. Aber er stellt sie und liefert am Ende sogar eine Antwort. Ob es ein Happy End ist, wird jeder anders entscheiden. Je nachdem, ob man an einen wahren Kern glaubt oder an die Veränderbarkeit. Der echte Gary Johnson ist inzwischen gestorben. Während seiner Zeit bei der Polizei hat er mehr als 60 Beinahe-Mörder überführt. Am Ende seines Lebens war er Buddhist und glaubte, dass in jedem Menschen das Potenzial zur Erleuchtung schlummert. Wie wir dahin kommen? Wir müssen es uns nur ganz genau vorstellen.
„A Killer Romance“ läuft ab dem 4. Juli im Kino.