Es wimmelt von Mäusen im Leben von Bill und Tom Kaulitz. Jeder geliebte Mensch, Bruder, Bandkollege oder beste Freundin wird liebevoll mit „Hey Maus“ begrüßt. Damit sind die Tokio-Hotel-Stars voll im „Hot Rodent Man“-Trend der letzten Wochen, der sexy Männer mit sexy Nagetieren vergleicht. Doch zu sagen, die Kaulitz-Brüder gingen mit einem Trend, hieße, sie an der Wurzel falsch zu verstehen. Die Kaulitzes gehen mit keinem Trend, sie schaffen ihn selbst, oder schreiten über ihn hinweg.
Wer sich bei Bill und Tom Kaulitz nur an einen exzentrischen dünnen Jungen mit schwarz geschminkten Augen und einen in Hip-Hop-Klamotten und Dreadlocks erinnert, die vor dem Stimmbruch „Durch den Monsun“ ins Mikro gesungen haben, hat in den letzten Jahren einiges verpasst. Die Band Tokio Hotel gibt es noch immer, und sie ist mit inzwischen elektropoppigeren Klängen beständig erfolgreich.
Die Zwillingsbrüder sind schon vor Jahren vor dem Ruhm und stalkenden Fans nach Los Angeles geflohen, machen in Deutschland aber immer noch mit Fernsehauftritten und ihrem Podcast „Kaulitz Hills“ von sich reden. Den starten sie zuverlässig mit einem Drink, um die ohnehin schon locker sitzende Zunge noch besser ins Rollen zu bringen. Ihre Gespräche sind ein schnelles, sich teils überschlagendes, teils gleichzeitig das Gleiche sagende Geplapper, das alle paar Momente in Gelächter mündet. Diese Mischung aus bunt-fröhlicher Furchtlosigkeit lässt sich so gut vermarkten, dass jeder Reality-TV-Macher sich wohl schon lange nach den Brüdern die Finger leckt. Doch Sender wie RTL und ProSieben, die dumm wären, hätten sie es nicht versucht, müssen sich gegen Netflix geschlagen geben. Hier erscheint ab dem 25. Juni die Dokuserie „Kaulitz & Kaulitz“.
Allerdings gehen sowohl die Bezeichnung „Reality-TV“, wie Netflix die Reihe betitelt, sowie „Dokuserie“, wie es in der Berichterstattung immer wieder heißt, an der Sache vorbei. Es ist nicht trashy, wie man es von Reality-TV-Formaten wie „The Real Housewives of Beverly Hills“ kennt, in der sich reiche Hollywood-Mütter nach konstruierten Streits auf Jachten an den Haar-Extensions ziehen. Dokuserie klingt hingegen, als würde eine Stimme aus dem Off gleich über die Bedeutung von Skarabäen auf altägyptischen Wandgemälden berichten. Die Kaulitzes bewegen sich irgendwo zwischen Extensions und Skarabäen.
Der eine schluffig, der andere echauffiert
Da geht es einerseits um die Auswirkungen, die der Ruhm und die Musikindustrie auf so junge Menschen hat. So sei Bill lange vom Plattenlabel gedrängt worden, seine Homosexualität zu verstecken. Andererseits hat Netflix für die Würze und das Cliffhanger-Material zwei Storylines herausgearbeitet: Bill Kaulitz sucht nach seiner großen Liebe – und lebt dabei als Single und viel feiernd das Gegenmodell zu der L.A.-Spießerehe seines Bruders. Tom ist, wie alle wissen, glücklich mit Heidi Kaulitz, ehemals Klum, verheiratet und ja, es gibt Gastauftritte. Die verschiedenen Lebensentwürfe würden die beiden jedoch einander entfremden, so die Zwillinge.
Doch zu sehen ist von dieser angeblichen Disharmonie, trotz Streits vor der Kamera, nicht viel. In einer Szene werden beide von einem befreundeten Paar zum Essen eingeladen. Während Tom schluffig auf dem Sofa hängt, echauffiert sich Bill, aufgerichtet wie ein Erdmännchen mit blonden Haaren und weichem Wein-Blick, dass Tom es einfach nicht leiden könne, wenn Bill sich in einer Beziehung verändert, weil er sich dann nicht mehr auf die Karriere konzentrieren würde. Tom erwidert, er könne die ganze Band morgen hinschmeißen, ihm sei es egal. Es ist der Stoff, der gute Trailer macht. Doch Drohungen wirken in der Welt der Kaulitzes nicht bedrohlich, sondern warm und weich wie die kalifornische Abendsonne. Jeder Streit ist eine Kabbelei, jeder Herzschmerz wird mit Cocktails weggelacht.
Gleichzeitig ist an der Serie nichts wie „The Real Housewives of Beverly Hills“. Dafür sorgen schon die Normalos als Sidekicks. Da sind diese zwei Kumpels, die zur Meatball-Night einladen, sich nach dem Hundestreicheln und vor dem Hackfleischrollen die Hände nicht waschen und dabei über Tomatensoße schwadronieren. Man weiß, wer die sind, man kennt diese Typen. Nach dem gleichen Konzept haben schon die beiden Bandmitglieder in der hinteren Reihe von Tokio Hotel funktioniert, Georg und Gustav, an denen nichts Cosmopolitan und alles Kartoffelsuppe war.
Herausgekommen ist eine schöne, hervorragend geschnittene Welt, in der Wahrheit und performte Wahrheit ununterscheidbar verschwimmen. Es ist einem dann auch egal, ob die Brüder Musik oder Filme machen und wie qualitativ gut das alles ist – sie sind einfach geborene Unterhalter.
„Kaulitz & Kaulitz“ läuft ab dem 25. Juni auf Netflix.