Irgendwann musste die Observation Erfolg haben – und am Abend des 4. Dezember 1971 war es soweit. Bereits seit vier Tagen hatten Polizisten in Zivil einen am Winterfeldplatz im West-Berliner Bezirk Schöneberg abgestellten hellblauen Ford Transit überwacht. Sein Kennzeichen B-U 1176 war eine sogenannte Doublette: Es gab einen anderen, ordentlich zugelassenen blauen Ford Transit mit diesem Kennzeichen. Eine für Terroristen typische Tarnung.
Die Polizei vermutete, dass dieser Lieferwagen für einen erneuten Überfall (schon zwei Banken waren in den vorangegangenen Wochen von Linksextremisten ausgeraubt worden) als „Garderobewagen“ benutzt werden sollte: So ein Fahrzeug wurde in der Nähe des Tatortes abgestellt, diente den Tätern als Unterschlupf und transportierte Waffen sowie Tarnmaterial.
An diesem Samstag vor dem zweiten Advent bestiegen bald nach 17 Uhr zwei junge Männer den Transit mit den gefälschten Kennzeichen, hielt das Einsatzprotokoll der Polizei fest, und fuhren damit in Richtung Eisenacher Straße. Die Zivilbeamten, die den Wagen beschatteten, merkten schon bald, dass dieses Fahrzeug einen „Begleitschutz“ hatte: einen roten VW Variant mit dem Kennzeichen B-R 6925.
Die Polizisten meldeten das per Funk (ihr Wagen hatte, 1971 nicht selbstverständlich, die nötige Technik an Bord) und erfuhren bald: Bei dem roten VW handelte es sich ebenfalls um eine „Doublette“, der echte Wagen mit diesem Kennzeichen parkte vor der Wohnung des Eigentümers. Jetzt war den Beamten klar, dass sie dicht vor einem Fahndungserfolg standen.
Abermals per Funk riefen sie daraufhin Verstärkung. Doch erreichte dieser Funkspruch niemanden. Das ahnten die Polizisten nicht, als der Ford Transit kurz vor der Kleiststraße wendete und gegen 17.20 Uhr vor dem Haus Eisenacher Straße 2 nahe der Einmündung der Fuggerstraße einparkte. Auch der rote VW stoppte, und aus beiden Wagen stiegen je zwei Personen aus.
In der falschen Annahme, dass jeden Moment Verstärkung eintreffen würde, stiegen die beiden Zivilbeamten ebenfalls aus und gingen auf die vier jungen Leute zu. Als sie die vier aufforderten, sich auszuweisen, flüchtete einer von ihnen, die drei anderen stellten sich gegen 17.23 Uhr mit dem Gesicht zur Hauswand; ein Beamter verfolgte den Flüchtigen, der andere hatte seine Dienstwaffe gezogen.
Ein Anwohner sah das aus seinem Fenster und rief um 17.24 Uhr die Notrufzentrale an: „In der Eisenacher Straße, Ecke Fugger, werden drei junge Leute mit der Pistole bedroht von einem.“ Dann sagte er noch (der Anruf wurde routinemäßig aufgezeichnet): „Ich weiß nicht, ob das schon die Auswirkungen der Baader-Jagd sind. Können Sie da mal hinfahren?“
Ein, zwei kurze Nachfragen später rief der Anrufer plötzlich: „Es wird geschossen, schnell!“ Es war 17.25 Uhr. Binnen weniger Sekunden wurden etwa zwei Dutzend Patronen abgefeuert, dann lag einer der jungen Leute tot auf dem Bürgersteig. Es handelte sich um den 24-jährigen Georg von Rauch, den jüngsten Sohn des gleichnamigen Kieler Professors für Osteuropäische Geschichte. Eine Kugel hatte ihn ins rechte Auge getroffen und war aus dem Hinterkopf wieder ausgetreten.
Was genau geschehen war, gaben unbeteiligte Zeugen und die Beamten vor Ort abweichend wieder. Mal hieß es, einer der drei an der Wand lehnenden jungen Leute habe seine Waffe gezogen und gefeuert; mal soll jemand anderes, vielleicht der Geflüchtete, als erster geschossen haben. Nach wieder einer anderen Wahrnehmung eröffneten zwei Personen auf der anderen Straßenseite das Feuer auf die Polizei.
Gut zwei Jahre später, Anfang Februar 1974, äußerte sich von Rauchs Freund Michael „Bommi“ Baumann, der zu den vier jungen Leuten in den beiden Auto-„Doubletten“ gehört hatte, in einem Interview mit dem Hamburger Magazin „Der Spiegel“ eindeutig. Auf die Frage: „Wer hat in der Eisenacher Straße zuerst geschossen?“ antwortete er: „Klar Georg, aber geschossen wurde fast gleichzeitig.“ Auf die Nachfrage: „Wann haben Sie geschossen?“ erklärte Baumann: „Wenn Sie es knallen hören, schießen Sie automatisch zurück, das ist logisch.“
In seinen 1975 als illegaler Untergrunddruck erschienenen Erinnerungen an seine aktive Zeit als Terrorist mit dem Titel „Wie alles anfing“ relativierte Baumann diese klare Aussage: „Heute muss ich sagen, dass ich nicht mehr weiß, wer die Knarre zuerst gezogen hat. Ich glaubte, es war Georg, aber nach dem ganzen Durcheinander kann ich mich nicht mehr richtig erinnern.“
Jedenfalls wurde der Polizist Hans-Joachim Sch. von einem Treffer in der Leistengegend verletzt; er schoss auch selbst. Verfeuert wurde in der wenige Sekunden dauernden Schießerei Munition der Kaliber 6,35 Millimeter, 7,65 Millimeter und neun Millimeter. Die Spurensicherung konnte jedoch das tödliche Geschoss nicht eindeutig identifizieren, weil es durch das Auge in Georg von Rauchs Kopf eingetreten war und es deshalb keinen klaren Schusskanal gab. Bei seiner Leiche wurden zwei Neun-Millimeter-Magazine gefunden; die passende Waffe lag in einiger Entfernung am Boden.
Sicher falsch waren aber die Behauptungen des von der DDR-Staatssicherheit finanzierten und gelenkten linksradikalen „Berliner Extradienstes“, Mitarbeiter des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz hätten ebenfalls geschossen – denn die waren in West-Berlin gar nicht bewaffnet. Dennoch wurde diese Behauptung unter anderem Grundlage einer Strafanzeige, die der Terroristen-Anwalt Hans-Christian Ströbele Mitte Dezember 1971 erstattete.
In der linksextremen Szene machte bald die Behauptung eines „Vorbeugemordes“ die Runde, die sich auch der linke Schriftsteller Erich Fried zu eigen machte. Angesichts der Umstände (am Ort der Schießerei standen zwei bewaffnete Zivilbeamte mindestens vier, wenn nicht sechs bewaffneten Extremisten gegenüber) war das jedoch absurd.
Die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin stellte Ende Mai 1972 das Ermittlungsverfahren gegen Hans-Joachim Sch. ein, der „mit aller Wahrscheinlichkeit“ den tödlichen Schuss abgefeuert hatte. Die Untersuchungen hatten ergeben, dass der Beamte, sofern es denn wirklich seine Kugel war, auf jeden Fall in Notwehr handelte – Georg von Rauch hatte demnach als Erster geschossen.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Dezember 2021 veröffentlicht.
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