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Baader Meinhof Komplex im Kino

Im Westen Berlins begann der Amoklauf der RAF

Autorenprofilbild von Sven-Felix Kellerhoff
Von Sven-Felix KellerhoffLeitender Redakteur Geschichte
Veröffentlicht am 16.09.2008Lesedauer: 9 Minuten

Am heutigen Dienstag hat "Der Baader Meinhof Komplex" in München Premiere, nächste Woche Donnerstag kommt der Film in die Kinos. Das Interessen an dem Film ist groß. Nie zuvor wurden die Taten der RAF so drastisch gezeigt. Ihren Ursprung nahm die RAF im Westen Berlins. Morgenpost Online ist auf Spurensuche gegangen.

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Die RAF hatte ein klares Feindbild: den Kapitalismus. Wo zeigte er sich alltäglicher und dennoch ungeschminkter als in den Konsumtempeln der westeuropäischen Großstädte? Ein Kaufhaus mit allen Waren und allen Menschen darin anzuzünden, war also nichts weiter, als praktizierter Widerstand und lebendige Revolution. Wo hört die Satire auf, wo beginnt der tödliche Ernst? Am 24. Mai 1967 verteilen Bewohner der anarchistischen Wohngemeinschaft "Kommune 1" in der Mensa der Freien Universität Berlin Flugblätter, in denen es um einen Großbrand im Brüsseler Kaufhaus A l'Innovation geht.

Obwohl dabei mehr als 300 Menschen gestorben sind, heißt es in einem Handzettel zynisch: "Ein ungewöhnliches Schauspiel bot sich am Montag den Einwohnern der belgischen Metropole. Ein brennendes Kaufhaus mit brennenden Menschen vermittelte zum ersten Mal in einer europäischen Großstadt jenes knisternde Vietnamgefühl (dabei zu sein und mitzubrennen), das wir in Berlin bislang noch missen müssen."

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In einem weiteren Flugblatt unter der Überschrift "Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?" werden die Anarchisten um Dieter Kunzelmann, Rainer Langhans und Fritz Teufel noch deutlicher: "Bisher krepierten die Amis in Vietnam für Berlin. Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: Sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben, und Brüssel wird Hanoi." Die Kommunarden, die sich selbst als Avantgarde verstehen, verkünden: "Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht." Und sie schließen ihr Flugblatt mit den Worten: "Burn, warehouse, burn!" Das soll wohl so viel bedeuten wie "Brenn, Kaufhaus, brenn!" - heißt aber in Wirklichkeit: "Brenn, Lagerhaus, brenn!"

Baaders wilder Aktionismus

Aktionen wie diese beeindrucken den charismatischen Kleinkriminellen Andreas Baader, der seit 1963 in der eingemauerten Teilstadt lebt. Er möchte dazugehören, zur Kommune 1, zur Avantgarde. Immer wieder kommt er zu Besuch in die Sechseinhalb-Zimmer-Wohnung in der Kaiser-Friedrich-Straße 54, wo die Kommunarden im Frühjahr 1967 das Hauptquartier ihres radikal antibürgerlichen Wohnprojekts aufgeschlagen haben. Aber mit seinem wilden Aktionismus, etwa dem Plan, die Turmruine der Gedächtniskirche zu sprengen, kann er bei Kunzelmann und Freunden nicht landen, und auch nicht bei der linken Szene im Westen Berlins. Noch nicht.

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Das ändert sich, nachdem Baader die Aufforderung der Kommunarden von 1967 in die Praxis umgesetzt hat. Am 2. April 1968 legen er und seine Freundin, die hochbegabte Pfarrerstochter Gudrun Ensslin, sowie zwei Mittäter Brandsätze in Kaufhäusern in Frankfurt am Main. Eigentlich hatten sie geplant, das KaDeWe zum Ziel zu machen - doch dagegen hat selbst Kunzelmann Einwände; er soll gedroht haben, dann zur Polizei zu gehen. Also Frankfurt.

Baader und Ensslin warnen die Feuerwehr mit einem Anruf bei der Deutschen Presseagentur: "Gleich brennt's bei Schneider und im Kaufhof. Es ist ein politischer Racheakt." Menschen werden nicht verletzt, der Sachschaden beträgt knapp 700 000 Mark, und die bald gefassten Brandstifter werden zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch schon im Sommer 1969 sind sie wieder frei, dank eines Revisionsantrags ihrer Anwälte.

Sie tauchen unter, reisen nach Paris und Rom. Beide sind entschlossen, sich keinesfalls zu stellen: "Wir gehen nach Berlin, tauchen dort unter, und dann sehen wir weiter", sagt Gudrun Ensslin ihrem Vater bei einem überraschenden Besuch in Stuttgart. Zunächst kommen die beiden Flüchtlinge in der Wohnung von Ulrike Meinhof in Schöneberg unter. Baader will sich Waffen beschaffen und nimmt Kontakt mit Peter Urbach auf, einem Handwerker und bekannten Sympathisanten der linksextremen Studenten. Doch Urbach ist zugleich ein V-Mann des Verfassungsschutzes und gibt der Polizei einen Tipp, wo sie Baader festnehmen können.

Anfang April 1970 sitzt er also wieder im Gefängnis - wohin er auf keinen Fall zurückwollte. Er hat noch gut zehn Monate Haft wegen der Brandstiftung in Frankfurt abzusitzen. Nun treffen sich der linksradikale Jurist Horst Mahler, Gudrun Ensslin und einige weitere Mitglieder der Szene in der Wohnung von Ulrike Meinhof, um über die Möglichkeit einer gewaltsamen Befreiung zu beraten. Rasch ist man sich einig: Eine Befreiung aus dem Gefängnis ist unmöglich. Also muss man dafür sorgen, dass Baader ausgeführt wird. In der Kufsteiner Straße bereitet die Gruppe Baaders Befreiung vor: Sie wird zur Geburtstunde der RAF.

Am 14. Mai 1970 ist es so weit. Der Berliner Verleger Klaus Wagenbach hat bei der Justiz darum ersucht, den Strafgefangenen Andreas Baader in das Zentralinstitut für soziale Fragen in die Dahlemer Miquelstraße 83 auszuführen. Er soll dort angeblich gemeinsam mit Ulrike Meinhof Literatur für ein gemeinsames Buchprojekt auswerten. In Wirklichkeit geht es Meinhof und Ensslin darum, Baader aus der Haft zu holen; die beiden haben sich auf dem Schwarzmarkt für je 1000 Mark zwei Pistolen besorgt.

Mindestens fünf Personen sind an der Befreiung beteiligt, vor allem Frauen. Zur Unterstützung haben sie sich noch einen Mann geholt, der mit Waffen umgehen kann. Teilweise maskiert, stürmen sie den eigentlich gesperrten Lesesaal des Instituts. Ein Bibliotheksangestellter, der dem Befreiungskommando in die Quere kommt, wird niedergeschossen und lebensgefährlich verletzt; zwei Justizbeamte erleiden bei der Gefangenenbefreiung leichte Verletzungen. Baader, Ensslin und ihre Komplizen fliehen. Und auch Ulrike Meinhof springt, entgegen dem Plan, mit den Flüchtenden aus dem Fenster. Für sie ist es der endgültige Abschied aus der Legalität in den Untergrund.

Die Ideologie des Terrors

Die linke Szene bietet den nun steckbrieflich gesuchten Flüchtlingen zunächst Quartier. Schon zwei Wochen später kursiert eine Erklärung von Gudrun Ensslin: "Es hat keinen Zweck, den falschen Leuten das Richtige erklären zu wollen. Das haben wir lange genug gemacht. Die Baader-Befreiungs-Aktion haben wir nicht den intellektuellen Schwätzern, den Hosenscheißern, den Alles-besser-Wissern zu erklären, sondern den potenziell revolutionären Teilen des Volkes. Das heißt denen, die die Tat sofort begreifen können, weil sie selbst Gefangene sind. Denen - und nicht den kleinbürgerlichen Intellektuellen - habt ihr zu sagen, dass jetzt Schluss ist, dass es jetzt losgeht, dass die Befreiung Baaders nur der Anfang ist!"

Unmissverständlich beschreibt sie die Strategie der Baader-Befreier: "Macht das klar, dass die Revolution kein Osterspaziergang sein wird. Dass die Schweine die Mittel natürlich so weit eskalieren werden, wie sie können, aber auch nicht weiter. Um die Konflikte auf die Spitze treiben zu können, bauen wir die Rote Armee auf." Ganz klar ist die Botschaft auch, was die Mittel der Terrorgruppe betrifft: "Die Konflikte auf die Spitze treiben heißt: dass die nicht mehr können, was die wollen, sondern machen müssen, was wir wollen."

Einige Tage später reist diese erste Generation der RAF in zwei Gruppen über den Ost-Berliner Flughafen Schönefeld nach Beirut und weiter in ein Ausbildungslager in Jordanien, wo sie zwei Monate lang den praktischen Umgang mit Schusswaffen und Sprengstoffen lernt. Die DDR-Grenzer machen ihnen keine Schwierigkeiten, obwohl die schlecht gefälschten Pässe der im Westen gesuchten Täter sogar die Zöllner in Beirut stutzig werden lassen. Die Terroristen der zweiten Gruppe, unter ihnen Baader, Ensslin und Meinhof, haben sich mit schwarz gefärbten Haaren in "Araber" verwandelt - kaum eine geeignete Tarnung, um die als scharf bekannten ostdeutschen Grenzwächter zu überlisten. Trotzdem haben die Linksradikalen keine Schwierigkeiten, denn von Beginn an unterstützt die DDR den RAF-Terror.

Ebenfalls über den sicheren Weg Schönefeld kehren die nun im Straßenkampf angelernten "Revolutionäre" im Sommer 1970 nach West-Berlin zurück. Zeitgleich mieten Unterstützer von Baader-Meinhof unter falschem Namen mehrere Wohnungen an - unter anderem in Schöneberg in der Martin-Luther-Straße 6-10 und der Hauptstraße 19 sowie in Wilmersdorf am Kurfürstendamm 130. Hier diskutieren und schlafen die Untergetauchten abwechselnd, relativ sicher vor dem Zugriff der Behörden.

Wer im Untergrund lebt, braucht Geld. Viel Geld. Also plant die RAF im September 1970 einen großen Schlag: Praktisch gleichzeitig wollen die Terroristen drei Banken überfallen; so soll die Fahndung aufgesplittert werden. Es ist ihr erster ganz großer Schlag, und er trifft die Berliner Bank in der Rheinstraße 1; die Beute hier beträgt 154 182,50 Mark. In der Sparkasse am Südwestkorso 38 lassen die Räuber 55 152 Mark mitgehen. Doch in der Sparkasse in der Altonaer Straße sind es nur 8115 Mark; hier übersieht Ulrike Meinhof einen Karton mit weiteren 97 000 Mark.

Eine Woche später trifft sich die RAF in einer unter falschem Namen gemieteten Wohnung zur "Selbstkritik". Alle finden, man könne die Technik der Banküberfälle noch verbessern; Fehler wie der von Meinhof sollen möglichst nicht mehr vorkommen. Horst Mahler sagt: "Es handelt sich um das Geld von Kapitalisten. Der kleine Mann ist davon nicht betroffen." Richtig ist: Die Versicherungen ersetzen den Verlust, aber tragen müssen ihn letztlich alle Kunden der Banken. Durch einen anonymen Tipp erfährt die Polizei bald darauf von einer Wohnung, in der verdächtige Personen ein- und ausgehen sollen. In der Charlottenburger Knesebeckstraße 89 überraschen die Beamten am 8. Oktober 1970 Horst Mahler und vier Gesinnungsgenossinnen. "Kompliment, meine Herren!", sagt der Ex-Anwalt zu den Polizisten, als sie ihn trotz seines Toupets festnehmen. Doch anders als erhofft taucht Bandenchef Andreas Baader hier nicht auf. Es ist trotzdem der erste große Schlag gegen die RAF.

Daraufhin zieht sich die Terrorgruppe teilweise aus dem Westen Berlins zurück, obwohl die geteilte Stadt eine wichtige Operationsbasis bleibt. Mit dem Transit durch die DDR haben Baader und seine Genossen offenbar nie Probleme; dass sie dagegen von Tempelhof aus in die Bundesrepublik geflogen wären, ist nicht bekannt.

Ihre große Offensive starten sie jedenfalls in Westdeutschland, im Mai 1972. Insgesamt 15 Bomben legen die Terroristen, von Hamburg über Heidelberg und Frankfurt bis nach Karlsruhe, Augsburg und München. Elf davon explodieren und töten vier Menschen; 74 weitere werden teilweise schwer verletzt. Die Polizei reagiert mit einer bundesweiten Großfahndung, bei der die gesamte RAF-Spitze festgenommen wird.

Explosion im Eden-Haus

Auch in Berlin können einige Schlupflöcher der RAF ausgehoben werden, teilweise durch Zufälle. Im Eden-Apartmenthaus an der Budapester Straße explodiert am 1. Juni 1972 unter ungeklärten Umständen ein geheimes Waffenlager, das Brigitte Mohnhaupt angelegt hat, die sich besonders um die Logistik der Gruppe kümmert. Auch in mehreren Garagenkomplexen hat sich die RAF eingemietet, zum Beispiel am Sachsendamm 76/77; außerdem in Wohnungen in der Grunewaldstraße 23 und der Moabiter Straße.

Doch trotzdem ist der Amoklauf der Linksterroristen keineswegs beendet; dafür sorgt vor allem Andreas Baader durch seinen Auftritt im Kriminalgericht Moabit am 17. Januar 1973. Geladen als Zeuge im Prozess gegen seinen ehemaligen Verteidiger Horst Mahler, kündigt der RAF-Chef an, ab sofort zu hungern, "bis sich die Haftbedingungen geändert haben".

Die RAF hat mit Unterstützung ihrer Anwälte den Hebel gefunden, ihren Kampf aus den Gefängnissen fortzusetzen: Sie behaupten, sie würden isoliert und in Haft gefoltert. In Wirklichkeit haben sie privilegierte Lebensbedingungen und regelmäßig Besuche von Anwälten und Verwandten. Dennoch geht Baaders Kalkül auf: Aus Protest gegen die angebliche "Isolationsfolter" bekommt die RAF Zulauf. Fast alle Terroristen der zweiten Generation gleiten aus Protest gegen die angeblich unmenschlichen Haftbedingungen in die Illegalität ab. Größere Aktionen der RAF allerdings finden in der geteilten Stadt nicht statt. Was freilich nicht heißt, dass es hier nicht auch Terroranschläge gibt. Doch dafür sorgt eine andere Terrorgruppe, die sich nach dem Todestag des Studenten Benno Ohnesorg Bewegung 2. Juni nennt.