An Warnungen hatte es nicht gefehlt. Schon am 30. April 1970 war Direktor Wilhelm Glaubrecht zugetragen worden, einer der Insassen seiner Strafanstalt Tegel solle „mithilfe der Apo“ befreit werden. Angeblich handele es sich um Andreas Baader, einen 27-jährigen linken Aktivisten, der als Beruf Journalist angab.
Dem Leiter des größten Gefängnisses in West-Berlin erschien es eher unwahrscheinlich, dass wirklich Baader gemeint sei, würde er doch schon im Juli nach Verbüßen der Hälfte seiner Strafe die vorzeitige Entlassung auf Bewährung beantragen können. Außerdem gab es in Tegel einen Häftling mit ähnlichem Nachnamen, den verurteilten Mörder Paul Bader, der lebenslänglich bekommen hatte.
„Bei diesem Bader wurde daraufhin eine verstärkte Bewachung angeordnet und, als sich nichts in Richtung einer Befreiung tat, der gesamte Vorgang ad acta gelegt“, registrierte das Ost-Berliner Ministerium für Staatssicherheit fassungslos.
Trotzdem blieb Glaubrecht, dem erst Ende Januar unbekannte Täter den Privatwagen in Brand gesetzt hatten, vorsichtig, als Anfang Mai 1970 Andreas Baader einen Antrag auf Ausgang stellte. Im Vorjahr waren 379-mal Strafgefangene des Gefängnisses Tegel ausgeführt worden, begleitet stets von zwei bewaffneten Justizbeamten – meist zu Arztbesuchen, in wenigen Ausnahmen zur „Unterstützung des beruflichen Fortkommens“ als Teil ihrer angestrebten Resozialisierung.
Genau das verlangte auch Andreas Baader; er wolle in der Bibliothek des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen in der Miquelstraße 83 im West-Berliner Ortsteil Dahlem an einem Buch über die „Organisation randständiger Jugendlicher“ arbeiten. Doch der Gefängnisleiter lehnte ab – die notwendige Literatur könne Baader sich in die Haftanstalt kommen lassen.
Vielleicht spielte eine Rolle, dass schon ein halbes Jahr lang eine Serie von Anschlägen mit linksextremem Hintergrund West-Berlin in Atem hielt. Zuletzt hatte es Attacken auf das Arbeitsamt im Märkischen Viertel und auf das Amerika-Haus in Charlottenburg gegeben; eine Bankfiliale und das Arbeitszimmer des höchsten Richters der geteilten Stadt, Günter von Drenkmann, waren mit Molotowcocktails in Brand gesetzt worden. In Drenkmanns Büro im Kammergericht hatten die Täter Fotos von Baader und dem wegen anderer Anschläge inhaftierten Michael „Bommi“ Baumann zurückgelassen. Die radikale Szene in der Stadt stand unter Hochspannung.
Am Dienstag, dem 12. Mai 1970, erfuhr Direktor Glaubrecht, dass der linke West-Berliner Verleger Klaus Wagenbach für das Projekt mit dem Arbeitstitel „Zur Organisation randständiger Jugendlicher“ Andreas Baader einen Buchvertrag angeboten habe. Das Vorhaben schien also doch ernst gemeint.
Glaubrecht aber zögerte noch, denn er war Baader schon weit entgegengekommen. Zum Beispiel hatte er dem Strafgefangenen Besuche der bekannten Journalistin Ulrike Meinhof sowie einer Frau genehmigt, die sich als Lektorin des Wagenbach-Verlages vorgestellt hatte – und zwar dreimal in nur einer Woche.
Insgesamt war Baader seit seiner Festnahme fünf Wochen zuvor bereits 25-mal besucht worden: deutlich öfter als üblich und nach der Strafvollzugsordnung zulässig. Als Baaders Anwalt Horst Mahler von Glaubrechts Ablehnung hörte, bestand er auf einem Gespräch mit dem Direktor.
Ausschließlich Baader sei in der Lage, im Dahlemer Institut die benötigte Literatur auszuwählen, argumentierte der Verteidiger. Daraufhin gab Glaubrecht nach und genehmigte für den übernächsten Tag die Ausführung: einmalig und maximal drei Stunden lang. Für eine Wiederholung fehle das notwendige Personal.
Am 14. Mai 1970, einem Donnerstag, traf der Strafgefangene Andreas Baader gegen 9:45 Uhr in Begleitung zweier bewaffneter Justizbeamter in der Miquelstraße ein und setzte sich in den Lesesaal neben Ulrike Meinhof; ein Institutsmitarbeiter bot an, Kaffee zu kochen.
Eine Dreiviertelstunde später erschienen zwei junge Frauen, die ebenfalls im Lesesaal zu arbeiten begehrten. Doch das wurde ihnen verweigert, weil dort bereits Meinhof, Baader und die beiden Wachen saßen. Also nahmen die beiden in der Diele des Instituts Platz.
Gegen elf Uhr öffneten sie die Tür der Villa und ließen einen maskierten Mann hinein sowie eine Frau mit roter Perücke – die angebliche Wagenbach-Lektorin, in Wirklichkeit Baaders Gefährtin Gudrun Ensslin. Beide hielten Waffen in den Händen. Georg Linke, ein 62-jähriger Mitarbeiter des Instituts, versuchte zu flüchten und wurde mit einem Bauchschuss lebensgefährlich verletzt.
Nun rissen die beiden jungen Frauen Pistolen aus ihrer Tasche, stürmten in den Lesesaal und schrien: „Hände hoch oder wir schießen!“ Ohne die Reaktion der Justizbeamten abzuwarten, feuerten sie Tränengaspatronen ab. Beide Wachen wurden verwundet. Im Handgemenge fielen weitere, ungezielte Schüsse.
Während der maskierte Mann und die drei Frauen die Justizbeamten beschäftigten, sprang Andreas Baader aus dem Hochparterrefenster des Institutslesesaals in den Garten. Ulrike Meinhof folgte ihm, dann kam das Befreiungskommando. Baader, Meinhof und die anderen rannten zu zwei mit Fahrerinnen und laufendem Motor bereitstehenden Wagen, einem zweitürigen Alfa Romeo und einem viertürigen BMW.
Baader und Meinhof stiegen in den BMW, ihnen folgte Ensslin. Die anderen, der maskierte Mann und die beiden jungen Frauen, quetschten sich in den Alfa. Dann brausten beide Autos mit quietschenden Reifen davon. Die Fahrt war kurz, vielleicht zwei Kilometer. Dann ließ die Fahrerin des BMW Baader, Ensslin und Meinhof aussteigen und entsorgte die gestohlenen Nummernschilder, die mit Klebeband auf den echten befestigt gewesen waren.
Mit dieser Szene wie aus einem schlechten Film begann vor einem halben Jahrhundert die Geschichte der Rote Armee Fraktion, der größten linksterroristischen Gruppe in der Bundesrepublik. Von 1970 bis 1993 fielen ihrem Amoklauf gegen den Rechtsstaat 34 Unschuldige zum Opfer – elf deutsche und niederländische Polizeibeamte, neun Zufallsopfer, sieben US-Soldaten und „nur“ sieben Männer, die den westdeutschen Staat oder seine Wirtschaft repräsentierten, also die eigentlichen Feindbilder der Angreifer darstellten.
Weitere mindestens 230 Menschen wurden bei Anschlägen der RAF teilweise schwer verletzt; der erste von ihnen war Georg Linke, der Mitarbeiter des Zentralinstituts für soziale Fragen, der durch einen Lebersteckschuss zum Pflegefall wurde und seinen Lebensabend in Krankenhäusern verbrachte.
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Dieser Artikel wurde erstmals im Mai 2020 veröffentlicht.