Selten hat eine Ausgabe der hochseriösen „Historischen Zeitschrift“ (HZ) für so viel Aufsehen gesorgt wie die letzte Nummer des Jahrgangs 2019. Denn in dem kurz vor Weihnachten ausgelieferten Heft wurde eine wüste Polemik eines gewissen „Robert C. Moore“ abgedruckt. Darin griff er massiv den Würzburger Historiker Rainer F. Schmidt und eine Reihe weiterer Historiker an, die sich mit dem Ersten Weltkrieg auseinandersetzen.
Inzwischen hat „Moore“, den niemand in der deutschen Geschichtswissenschaft kennt und der noch nie etwas unter diesem Namen zu einem einschlägigen Thema veröffentlicht hat, in einer abermals zugespitzten „Stellungnahme“ zum WELT-Bericht nachgelegt. Die teilweise beleidigenden Vorwürfe von „Moore“ richten sich selbst; man kann sie getrost ignorieren. Aber die Sache an sich sollte geklärt werden.
Der unbestritten beste Kenner des Ersten Weltkrieges seiner Forschergeneration ist der Düsseldorfer Emeritus Gerd Krumeich. Seit Jahrzehnten untersucht er besonders die deutsch-französischen Beziehungen vor und im Krieg.
WELT: Hat Sie der Aufsatz von „Moore“ in der „HZ“ überrascht?
Gerd Krumeich: Ja. Ich konnte und kann nicht verstehen, warum die überseriöse „HZ“ den Beitrag einer Person, die möglicherweise ein Pseudonym ist, überhaupt druckt. Auch hätte den Redakteuren der „HZ“ auffallen müssen, wie grobschlächtig-polemisch und wie schrecklich einseitig die Argumentation von „Moore“ ist.
WELT: Sie sehen aber auch Rainer F. Schmidts Aufsatz sehr kritisch?
Krumeich: Richtig, auch dieser Text, auf den „Moore“ antwortet, hätte in dieser Form nicht erscheinen sollen. Gewiss ist Schmidt wissenschaftlich viel informierter als „Moore“, aber er urteilt doch ganz unbewusst allein vom „deutschen Standpunkt“ aus, kann oder will sich nicht darauf einlassen, als wie bedrohlich den anderen das deutsche Verhalten erscheinen musste.
WELT: Woran machen Sie das fest?
Krumeich: Für Kollegen Schmidt ist beispielsweise der französische Staatspräsident Raymond Poincaré ein Politiker, der von einer „Revanche“ für die Niederlage von 1871 träumt und alles tut, um diese möglich zu machen. Da argumentiert er, trotz allem, was wir als Historiker zu diesem Problem wissen, ähnlich wie jene Deutschen der 1920er-Jahre, die den Kriegsschuldvorwurf gegen Deutschland bekämpften.
WELT: Sie haben Ende 2013, kurz vor dem 100. Jahrestag des Kriegsbeginns also, eine „Bilanz“ mit Quellenanhang zur Juli-Krise 1914 veröffentlicht. Was ist Ihrer Meinung nach damals geschehen?
Krumeich: Das erst 1871 gegründete Deutsche Reich war bei der imperialistischen Verteilung der Welt in gewisser Weise zu spät gekommen. Und seit etwa 1900 wurde in allen Kreisen der Gesellschaft, bei Regierenden und Militärs das Gefühl dominierend, dass man ein großes überseeisches Imperium aufbauen müsse, wollte man nicht auf Dauer an Rohstoffmangel und fehlenden Absatzmärkten zugrunde gehen.
WELT: Das klingt nach einer Art „defensiven Kolonialismus“?
Krumeich: Man könnte auch sagen: Imperialismus nicht als Luxus der Reichen, sondern als Lebensnotwendigkeit für alle.
WELT: Aber das gelang nicht so recht ...
Krumeich: ... weil sich die Deutschen extrem ungeschickt anstellten. Wilhelm II. und seine Leute liebten es, auf den diplomatischen Tisch zu schlagen, Ansprüche zu stellen und mit Krieg zu drohen. Der massive deutsche Flottenbau zu diesem Zweck war eine große Bedrohung für Großbritannien, Frankreich fühlte sich herausgefordert und mit Krieg bedroht, nachdem Deutschland 1911 ein Kanonenboot vor die marokkanische Küste geschickt hatte, um auch hier Ansprüche anzumelden – das führte zur bekannten Agadir-Krise.
WELT: Was waren die politischen Folgen?
Krumeich: Die Franzosen setzten alles in Bewegung, um nicht noch einmal vor einer deutschen Drohung zurückweichen zu müssen. Sie suchten das Bündnis mit Russland zu stärken, das sie vorher hatten schleifen lassen. Und sie strebten militärische Absprachen mit den Engländern an. Besonders die Verstärkung der militärischen Absprachen mit Russland lag Poincaré und seinen Regierungen am Herzen. Deshalb taten sie alles, ohne Rücksicht auf Verluste, um etwa den Ausbau der strategischen russischen Eisenbahnen an der deutschen Ostfront zu beschleunigen.
WELT: Welche Rolle spielte das deutsche Konzept für einen Zweifrontenkrieg, besser bekannt als Schlieffen-Plan?
Krumeich: Die Franzosen kannten den Schlieffen-Plan in Grundzügen. Und ihnen war klar, dass Deutschland ihn nicht realisieren durfte, also erst Frankreich schlagen, um dann das Gros des Heeres gegen Russland zu werfen. Das fürchteten die Franzosen.
WELT: Wie bewerten Sie diese Politik der französischen Führung 1913/1914?
Krumeich: Für mich war Poincaré kein „Revanchist“, wie man in Deutschland immer noch allzu leicht annimmt. Vielmehr war er nur entschlossen, die Verteidigung seines Landes gegen das übermächtige und als aggressiv empfundene Deutschland zu sichern.
WELT: Aber das hatte wiederum Folgen ...
Krumeich: Natürlich. Diese Bemühungen haben die Deutschen mitbekommen und fühlten sich deshalb nunmehr noch stärker „eingekreist“. Die Forschung hat lange betont, dass sie gar nicht echt eingekreist waren, sondern sich durch Ungeschicklichkeit und Brutalität selber „ausgekreist“ hätten. Das mag sein, ändert aber nichts daran, dass die meisten Deutschen sich schließlich lebensbedrohend eingekreist, ja als „erstickt“ empfanden. Und damit wurde auch „Not kennt kein Gebot“ zu einem wichtigen Schlagwort der militärischen Planung und des Regierungshandelns.
WELT: Eine gefährliche Formel.
Krumeich: Genau. Diese „Es geht nicht mehr lange gut“-Stimmung wurde durch das Bekanntwerden russisch-britischer geheimer Rüstungsgespräche im Frühjahr 1914 noch einmal angeheizt. Das führte dazu, dass die deutschen Militärs auch die Regierung überzeugen konnten, das Attentat von Sarajevo am 28. Juni 1914 zur „Klärung der Verhältnisse“ zu nutzen. Also einerseits auszutesten, wie weit Russland militärisch schon war. Und andererseits zu probieren, ob Russland wegen Serbien einen „großen Krieg“ riskieren wolle. Wenn ja, dann sollte es so sein, weil „lieber jetzt als später“.
WELT: Dieser Gedanke zieht sich durch die ganze Julikrise ...
Krumeich: Dass man mit diesem „Test“ von Russlands Kriegsbereitschaft die anderen Nationen zumindest auch provozierte, kam den deutschen Verantwortlichen nicht in den Sinn. Für mich ist das schlimmste Versagen der deutschen Regierung im Juli 1914, dass sie zulässt, dass Österreich-Ungarn den Serben ein bewusst unannehmbar formuliertes Ultimatum stellt.
WELT: Christopher Clark sieht das in seinem Bestseller „Die Schlafwandler“ anders.
Krumeich: Das kann ich angesichts der Quellenlage nicht verstehen. Es ist für mich ziemlich eindeutig: Die Reichsleitung will 1914 nicht nur Serbien in die Knie zwingen, sondern auch Russland. Die einzige Entschuldigung, die man für diesen Kriegskurs des Deutschen Reiches anführen kann, ist, dass damals niemand mit einem jahrelangen Krieg mit Millionen Toten gerechnet hat.
WELT: Manche schon, etwa in der SPD.
Krumeich: Ja, der 1913 verstorbene SPD-Vorsitzende August Bebel hatte schon Jahre zuvor diese Ahnung gehabt. Aber eben nicht die verantwortlichen Politiker und Militärs. Die meisten, nicht nur die einfachen Soldaten, waren der Auffassung, dass der „Europäische Krieg“ (wie man damals sagte) spätestens Weihnachten 1914 beendet sein werde. Deshalb hatte man ja auch nur Kriegsmaterial für ein bis zwei Monate auf Vorrat gestellt. Man dachte noch nicht an einen alles verzehrenden Weltkrieg, sondern an Krieg als Fortsetzung einer aus dem Ruder gelaufenen Politik.
WELT: „Moore“ schreibt in seiner „Stellungnahme“, in der er auch Sie als „Revisionisten“ beschimpft, unter anderem, es herrsche „in Deutschland“ zum Thema 1914 „seit über 20 Jahren Grabesstille“. Da hat er wohl einiges übersehen, oder?
Krumeich: Ich habe das Gefühl, dass „Moore“ ganz gut die Diskussion der 1970er-Jahre kennt; er argumentiert vielfach wie seinerzeit Fritz Fischer und seine Anhänger. Die haben ja auch viel Wichtiges entdeckt, was der älteren Generation meist nationalkonservativer Historiker entgangen war oder was sie nicht hatten sehen wollen. Aber diese Behauptung von der „Grabesstille“ der Forschung ist blödsinnig. Die gesamte Forschung der 1980er- und 1990er-Jahre zum Wettrüsten ist „Moore“ entgangen, Und was haben wir alles publiziert, im In- und Ausland, im Umkreis der „100 Jahre“ von 1914!
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