"Leute, er umarmt Bürger!" Die Schüler der 11. Klasse aus Berlin begeistern sich milde ironisch und zugleich statussensibel am überraschenden Auftritt ihres Bundespräsidenten, den sie zufällig im Getümmel von Halle 4 entdeckt haben. Es gibt etwas zu posten und daheim zu erzählen. Auf Exkursion zur Leipziger Buchmesse: Die Smartphones werden also gezückt vor dem Stand des Suhrkamp Verlags, als er von Verleger Jonathan Landgrebe den aktuellen Paul-Celan-Prachtband in die Hand gedrückt bekommt.

Die zahlreichen Sicherheitsleute haben ohnehin einen extra harten Job an diesem Nachmittag, wenn Frank-Walter Steinmeier im Pulk durch die Menschen geschoben wird. Zwei Stunden Messerundgang, höchste Gefahrenstufe, zumal in diesen Zeiten, Tuchfühlung muss da schon von ihm ausgehen. Andere junge Leute versuchen also beharrlich wie vergeblich, ihm ihr Manifest gegen den Klimawandel unterzujubeln ("Die Mehrheit will nicht, dass die Zukunft unserer Kinder vernichtet wird"). Steinmeier, von jeher silberlockig wie der selige Richard von Weizsäcker, freut sich am Stand des Verlags, der mittlerweile auch der seinige ist: In vier Wochen erscheint dort überraschend ein aktuelles Buch von ihm, unter dem wohlig dröhnenden Titel Wir, man hört die tiefe, beruhigend sorgenvolle Stimme des Bundespräsidenten schon mal mit, zumal in diesen Zeiten.

Stoff zum Grübeln gibt es bis dahin reichlich: Wann hat sich das Haus Suhrkamp eigentlich zu einer Stütze des Staates verwandelt? Hier waren doch traditionell nicht so sehr die Mächtigen zu Hause, sondern deren Kritiker? Demokratie gegen den Staat heißt da zum Beispiel ein bislang typisches Buch aus der Suhrkamp Culture. Aber vielleicht liegt der Pluralismus ja an diesen Zeiten – und das Gefühl der Machtlosigkeit soll ja auch die Mächtigsten heutzutage immer stärker befallen, zumal in der Stunde der Not. Wer da bei dem Wörtchen "Wir" immer noch eher an das markige SED-Motto "Vom Ich zum Wir" denkt, als anzustrebendes Ziel der sozialistischen Menschengemeinschaft, oder an den Klassiker der antiutopischen Literatur, den Roman Wir des russischen Autors Jewgeni Samjatin von 1920, oder einfach nur, pardon, den gleichnamigen, sehr komisch reaktionären Song Freddy Quinns von 1966 im Ohr hat: Wer also mit einem Wir lieber nicht umarmt werden möchte, sondern immer noch altmodisch Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft liest (auch so ein sozialwissenschaftlicher Suhrkamp-Klassiker!), der hat vielleicht den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen. Aber das sind, zugegeben, sicher viel zu misstrauische Vorabgrübeleien ohne Textgrundlage, überhaupt erst mal lesen, dann lästern, wir sind jedenfalls gespannt, in diesen Zeiten. Am Stand des Rowohlt Verlags bekommt Steinmeier dann Ronya Othmanns Roman Vierundsiebzig in die Hand gedrückt. Und eine Buchagentin vermutet angesichts des Auflaufs, hier müsse wohl ein Fantasyautor lesen, bevor sie dann doch den Bundespräsidenten entdeckt.

Natürlich ist es oft zwangsläufig ein eigentümliches Schauspiel, wenn Politik auf Literatur trifft, die Welten sind zu verschieden, und das Ritualisierte daran hat definitiv zu wenig Fantasy. Fairerweise muss man jedoch dankbar sein, dass es hierzulande tatsächlich echte Leser unter den Spitzenpolitikern gibt, gar nicht einmal wenige, der Bundespräsident gehört jedenfalls zu ihnen. Das Buch hat eine starke Lobby unter den Mächtigen. Und jene Rituale haben auch ihre andere Seite, die ja positiv wirkt, und sei es in Symbolik und Fotos: So besuchte Steinmeier auch den Stand des diesjährigen, rundum gelungenen gemeinsamen Gastlandauftritts der Niederlande und Flanderns sowie den Stand der Ukraine auf der Leipziger Messe – die Würdigung eines ungemein wichtigen kulturellen Engagements, mitten im Krieg.

Ein Zeichen sollte der Besuch Steinmeiers jedenfalls sein, so wie der Auftritt von Olaf Scholz bei der Eröffnung der Buchmesse im Gewandhaus am Abend zuvor. Wann waren zuletzt ein Bundespräsident und ein Bundeskanzler auf der traditionsreichen Leipziger Bücherschau? Die im Herbst anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt mit drohenden AfD-Triumphen befeuerte offensichtlich die sozialdemokratischen Staatsspitzen – während es ausgerechnet um die Buchmesse selbst momentan nicht gerade gut bestellt zu sein scheint. Ihr langjähriger Direktor Oliver Zille hatte vor wenigen Monaten zermürbt aufgegeben (und wurde bei der Eröffnung in Abwesenheit demonstrativ beklatscht), der Kurs der Messe unter der Nachfolgerin Astrid Böhmisch unklar, viele Verlage schauen verstärkt auf den kommerziellen Nutzen einer Teilnahme, trotz nach wie vor begeisterter Resonanz beim Publikum. Und auch der renommierte Preis der Leipziger Buchmesse mit seinen wichtigen Auszeichnungen ist offensichtlich in eine Sinnkrise geraten.