In Deutschland herrscht ein deliberatives Defizit; das ist deshalb problematisch, weil Debatte der Sauerstoff der Demokratie ist, die immer Verhandlungssache ist. Sehr deutlich haben das in der vergangenen Woche die ehemaligen Mitglieder der Findungskommission der nächsten Documenta ausgedrückt: "Wir glauben nicht, dass es unter den gegenw��rtigen Umständen in Deutschland den notwendigen Raum gibt für einen offenen Austausch von Ideen und die Entwicklung von komplexen und nuancierten künstlerischen Ansätzen."

So begründeten sie ihren gemeinsamen Rücktritt, nachdem bereits zwei Mitglieder der Findungskommission zurückgetreten waren: die israelische Künstlerin und Philosophin Bracha Lichtenberg Ettinger, weil sie unter dem Eindruck der Folgen des Hamas-Massakers vom 7. Oktober ihre Arbeit nicht erfüllen könne, und der indische Kurator Ranjit Hoskoté, weil er sich nicht distanzieren wollte von einer Petition, die er 2019 unterschrieben hatte und in der Zionismus als rassistische Ideologie bezeichnet wurde.

Sehr deutlich hat das kürzlich in einem ganz anderen Fall und Kontext auch das Bundesverfassungsgericht ausgedrückt: "Je länger die diagnostizierte Krise anhält und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise und die aus seiner Sicht fortdauernde Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung aufzuführen."

So begründete das Gericht sein Urteil, in dem das Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für nichtig erklärt wurde. Der Streit ging darum, ob die für die Corona-Krise ausgewiesenen Haushaltsmittel von der Bundesregierung nach dem Ende der Pandemie umgewidmet und für andere Zwecke genutzt werden könnten, in diesem Fall im weiteren Sinn für den Klimaschutz.

Eigentlich drehte sich das Urteil aber um die Frage, wie verfassungsrechtlich und vor allem politisch sinnvoll die sogenannte Schuldenbremse ist, die Maßgabe, dass die Haushalte von Bund und Ländern grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen sind. Ohne die Schuldenbremse, das ist wichtig zu sagen, hätte es die Intervention des Bundesverfassungsgerichts nicht gebraucht; die Schuldenbremse selbst verweist auf eine legalistische oder technokratische Verkrümmung demokratischer Praxis.

Es ist ein wirtschaftspolitischer Streit, der statt direkt in der demokratischen Arena mit den Mitteln der Gerichte ausgetragen wird. 2009 wurde die Schuldenbremse durch eine Verfassungsänderung in das Grundgesetz aufgenommen: Eine bestimmte Vorstellung davon, wie Wirtschaft organisiert werden sollte, wurde Gesetz – in diesem Fall die Austerität, ein Dogma des neoliberalen Zeitalters, das Gegenteil einer proaktiven und auf Investitionen ausgelegten Wirtschaftspolitik.

Entscheidend zum Verständnis dieser Maßnahme ist dabei der Zeitpunkt: Die Wirtschafts- und Finanzkrise von 2007 und 2008 hatte das Gerüst des globalen Kapitalismus erschüttert, Volkswirtschaften kämpften ums Überleben, in Europa vor allem Griechenland, aber auch Italien stand auf der Kippe. Sparen, so hieß es, sei überlebensnotwendig; Sparpolitik, die eigentlich demokratische Verhandlungssache zwischen unterschiedlichen Parteien sein sollte, wurde Gesetz.

Das mag absurd erscheinen, es ist aber, so scheint es, die Logik dieser Momente, in denen historische Brüche durch Regeln, Gesetze oder Verfassungsänderungen gekittet werden sollen. Es ist ein Signum des Zeitalters des, wie es Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem Buch Gekränkte Freiheit nannten, "libertären Autoritarismus" – Freiheitseingriffe im Namen der Freiheit.