Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat dem Bundeskanzler eine Diagnose verpasst. In einem Interview am Mittwoch sagte sie: "Nach drei Jahren stelle ich fest, dass er geradezu autistische Züge hat." Donnerstagmorgen ruderte sie zurück und entschuldigte sich. Nicht bei Olaf Scholz, sondern bei allen mit Autismus, schätzungsweise also bei 800.000 Menschen allein in Deutschland.  

Man kann das als erfreuliche Wendung sehen: Offenbar können psychische Störungen nicht mehr komplett shitstormfrei als Diffamierung herhalten. Marie-Agnes Strack-Zimmermann hat in 24 Stunden gesellschaftlichen Wandel nachgespielt.

Im Interview hatte sie ihre Pseudodiagnose so begründet: Die autistischen Züge zeigten sich bei Olaf Scholz "sowohl was seine sozialen Kontakte in die Politik betrifft, als auch sein Unvermögen, den Bürgern sein Handeln zu erklären. Man erreicht ihn nicht, weil er ein krasser Rechthaber ist." Eine Aussage voller Klischees: Autisten als merkwürdige Eigenbrötler, sozial inkompetent und störrisch. Dabei ist längst bekannt, dass besonders bei Autismus-Spektrum die Symptome hochindividuell sind – deshalb spricht man von einem Spektrum. Manchen fällt Blickkontakt schwer, anderen ist Nähe zu Menschen wichtig. Manche haben oft nur einen Blick fürs Detail, andere beunruhigen Veränderungen.

Dass das so ist, sollte eine Politikerin wie Strack-Zimmermann inklusive ihres Teams eigentlich wissen. Man kann nun spekulieren, warum sie Scholz trotzdem so angegriffen hat – immerhin fiel die Aussage in einem autorisierten Interview und nicht spontan. Vielleicht sollte es einfach ordentlich wumsen. Auch, ob die Entschuldigung aus tiefem Herzen kam oder aus politischem Kalkül entstand, ist schwer zu sagen. 

So oder so zeigt die Äußerung, wie mühsam es ist, Klischees loszuwerden. Man saugt sie auf, in Interviewschnipseln und Talkshows, an Kneipentischen und auf Pausenhöfen. Sie brennen sich ein und sind oft das Erste, was Menschen einfällt, wenn sie ein schnelles Urteil suchen. Das macht die Klischees so hartnäckig und leicht reproduzierbar. Für den zweiten Schritt, reflektieren, differenzieren, sind Menschen leider oft zu faul. Auch die Reaktionen auf die Äußerungen von Strack-Zimmermann waren von Vorurteilen geprägt: Lars Klingbeil sagte: "Wenn Frau Strack-Zimmermann Anstand hat, entschuldigt sie sich beim Bundeskanzler." Man verbat es sich also, Olaf Scholz in die Nähe von Autismus zu rücken – als ob "autistische Züge" eine Beleidigung wären. 

Letztlich zeigt der Vorfall, dass der Weg zu mehr Sensibilität gegenüber psychischen Störungen noch ein weiter ist. Depressionen, Burn-out und ADHS haben es mittlerweile in die Öffentlichkeit geschafft, vielleicht auch, weil sie mit dem Streben nach Leistung oder dem Scheitern daran assoziiert sind. Etwas, das als gesellschaftlich akzeptiert gilt. Bei vielen anderen Diagnosen verhält es sich nicht so: bipolare Störungen, Schizophrenie, Sucht, Autismus, an ihnen haften weiterhin Etiketten wie unzurechnungsfähig, unkontrolliert, gefährlich oder zumindest schrullig und schwer umgänglich. Solche Etiketten fördern Stigmatisierung und Scham – was psychisches Leiden weiter verstärken, Jobmöglichkeiten versperren und Menschen sozial ausschließen kann.

Solche negativ behafteten Diagnosen sind schon lange ein Mittel, um unbeliebte Politiker zu diffamieren oder irritierende Politiker psychologisch zu erschließen. Der Effekt dieser plumpen Ferndiagnosen ist, dass sich die Begriffe abnutzen. Sie verlieren ihren diagnostischen Wert für die Menschen, die sie wirklich brauchen, um sich selbst besser zu verstehen. Letztlich wird es Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, verunmöglicht, zu möglichen Diagnosen zu stehen. 

Der Hang zur Psychologisierung von Politikern ist vielleicht eine Ausflucht. Man reibt sich an einer Person, man kommt nicht weiter – also sucht man nach Erklärungen. Und findet sie, verdichtet zu einem Wort, in einer psychischen Diagnose. In vielen Fällen ist Psychologisierung aber bloß eine billige Form der Kritik. Marie-Agnes Strack-Zimmermann sollte sich das nächste Mal präzisere Argumente zurechtlegen, um den Kanzler anzugreifen.