Politische Debatten sind nichts, was in Klassenzimmern nicht stattfände. Dort sitzen jüdische Schülerinnen zusammen mit Palästinensern, dort sitzen türkischstämmige Söhne zusammen mit Töchtern von AfD-Wählern. In sozialen Medien sehen sie Videos von Rechtsradikalen oder Islamisten. Solche Themen bewegen Kinder und Jugendliche emotional, während im Unterricht Politik nur selten vorkommt. Schule muss ein Raum sein, in dem Einstellungen und Gefühle reflektiert und verhandelt werden können.  

Alle Bundesländer versprechen zwar, dass in der Schule nicht nur Wissen und historische Zusammenhänge vermittelt werden, sondern die Kinder auch in die Lage versetzt werden sollen, die Werte der freiheitlich demokratischen Grundordnung einzuüben. Im Politik- und Geschichtsunterricht, aber auch in allen anderen Fächern sowie im gesamten Schulalltag. Das klingt gut, wird aber längst nicht verlässlich umgesetzt.

Mehrere Befragungen zeigten zuletzt, dass Kinder und Jugendliche sich mit ihren Gedanken und Sorgen wenig ernst genommen fühlen und dass sie wenig Vertrauen in die Politik haben. Nur gut jeder zweite Jugendliche vertraut demnach der Bundesregierung, mehr als ein Drittel von ihnen ist stark anfällig für Verschwörungsdenken.

Nun hat die Ständige Wissenschaftliche Kommission der Kultusministerkonferenz auf diesen Missstand reagiert. Sie hat diverse Studien und Befragungen analysiert und daraus sieben Empfehlungen an die Kultusministerinnen abgeleitet. Die Stellungnahme Demokratiebildung als Auftrag der Schule liegt ZEIT ONLINE vor.  

Was messbar ist, muss gemessen werden

Wie gut Schülerinnen rechnen und schreiben können, wird regelmäßig gemessen. Dazu gibt es nationale und internationale Vergleichsstudien. Über die Kompetenzen der Schüler in politischer Bildung und Geschichte weiß man hingegen nur wenig. Es gibt keine bundesweiten Bildungsstandards für unterschiedliche Klassenstufen wie in Mathe und Deutsch. Politik wird in den Bundesländern mal allein, mal gemeinsam mit anderen Fächern und noch dazu oft viel zu spät und mit nur wenigen Stunden unterrichtet. Geschichte kommt immerhin verlässlicher vor.

Die Kommission empfiehlt daher, dass die Länder sich auf gemeinsame Standards verständigen. Gemessen werden kann nicht nur, was eine Schülerin über den Bundestag und den Bundesrat weiß, sondern auch, ob sie sich Informationen im Internet beschaffen und diese angemessen bewerten kann. Kennt sie Strategien, um Fake-News zu identifizieren und mit Hatespeech umzugehen? Monika Oberle ist Professorin für die Didaktik der Politischen Bildung an der Universität Frankfurt und war beteiligt an den Empfehlungen. Sie sagt, auch die politische Urteils- und Handlungsfähigkeit können Lehrkräfte prüfen – also etwa, wie ein Schüler seine Position zum Ausdruck bringen und begründen kann. 

Früh übt sich besser

Politische Bildung wird in den meisten Bundesländern viel zu spät unterrichtet. In der 5. und 6. Klasse kommt sie fast gar nicht vor, je nach Bundesland und Schulform steht sie sogar erst ab der 9. Klasse auf dem Stundenplan und kann in der Oberstufe womöglich schon wieder abgewählt werden.  

Geht es nach den Wissenschaftlern, sollten Geschichte und Politik bereits in der Grundschule verlässlicher behandelt werden. Dort sind politische und historische Bildung als Teil des Sachunterrichts vorgesehen, kommen in der Praxis aber oftmals zu kurz. Viele Lehrkräfte glaubten noch immer, Grundschulkinder seien zu klein für Politik, sagt Oberle.   

Dabei gebe es zahlreiche empirische Befunde, die das Gegenteil belegen. Ein Beispiel dafür sei ein speziell für Viertklässler entwickeltes Planspiel, dessen Wirkungen systematisch begleitend beforscht wurden. Die Kinder simulieren darin den Rat der EU und müssen Mehrheitsentscheidungen finden, zum Beispiel zum Umgang mit Plastikmüll oder mit Hatespeech. Sie einigen sich auf Regeln und wie verbindlich die sein sollen. Die Kinder würden dabei lernen: Es gibt eine Vielzahl von Interessen, und ich muss unterschiedliche Meinungen aushalten. Kompromisse sind wichtig, aber schwer auszuhandeln. Und ich kann mitreden und werde ernst genommen. Oberle sagt, es sei wichtig, an die Lebenswelten der Kinder anzuknüpfen, aber nicht, sich darauf zu beschränken.

Mehr Diskurs, mehr Lebenswelt im Fachunterricht

Jugendliche lernen am besten, wenn sie feststellen, dass sie etwas bewegen können. Diverse Studien belegen das, es gilt nicht nur für Grundschüler. Viele Lehrpläne gingen an der Realität vieler Schülerinnen und Schüler vorbei. Aktuelle Themen wie der Klimawandel kommen selten vor. Heikle Themen wie der Nahostkonflikt werden von Lehrerinnen und Lehrern noch zu oft gemieden. Geschichtslehrkräfte arbeiten sich zu starr durch die Chronik von Ereignissen, statt Schüler eigenständig Hypothesen formulieren zu lassen, Nachfragen und Darstellungen in eigenen Worten zu üben. Auch die unterschiedlichen Biografien der Schüler mit Migrationshintergrund werden im Geschichtsunterricht noch zu selten berücksichtigt. Zu selten würden Themen transnational vermittelt, also beispielsweise die Entwicklung der Menschenrechte in verschiedenen Ländern.