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Kein Thema wird derzeit in Europa so kontrovers diskutiert wie die Einführung einer Impfpflicht. Wie führt man darüber ein Gespräch mit einer Person, die man noch nie getroffen hat? Noch dazu mit jemandem, der darüber ganz anders denkt?

Mehr als 10.000 Menschen aus 37 Ländern haben diese Erfahrung bei der diesjährigen Ausgabe von Europe Talks gemacht. Seit Oktober hatten die Teilnehmenden die Chance, immer wieder auf Andersdenkende aus ganz Europa zu treffen. Aufgrund der Antworten auf bis zu zehn politische Ja-/Nein-Fragen hat unser Matching-Algorithmus sie dafür kontinuierlich in kontroverse Gespräche vermittelt. Europe Talks fand in diesem Jahr bereits zum dritten Mal statt. Seit 2019 hat ZEIT ONLINE gemeinsam mit europäischen Medienpartnern rund 38.000 Menschen in politische Zwiegespräche vermittelt.

Während der Auftaktveranstaltung –  einer länderübergreifenden Produktion mit Beiträgen aus Berlin, Warschau, London und Madrid – sprachen prominente Gäste aus ganz Europa zu den diesjährigen Themen des Dialogformats. Im Schnitt waren sich die Teilnehmenden in 5,7 von 9 Fragen uneins. Am kontroversesten wurde die Frage nach einer Impfpflicht diskutiert. 

Auch Helen Pasiali aus Griechenland und Peter Vida aus Ungarn, zwei der diesjährigen Teilnehmenden, wurden live zugeschaltet. Die Griechin und der Ungar beantworteten alle Fragen unterschiedlich. Auch ihre Begegnung zeigte, dass sie völlig gegensätzliche Ansichten zur Impfpflicht, zu Migration oder der gleichgeschlechtlichen Ehe haben. Im Interview während der Veranstaltung zeigten sie sich dennoch überrascht darüber, wie angenehm ihr Vieraugengespräch verlaufen sei, vielleicht deshalb, weil man gegenüber Menschen, die man nicht kenne, toleranter und offener sei, sagte Helen Pasiali.

Europe Talks 2021 - Zwei europäische Lebenswelten treffen aufeinander Peter Vida aus Ungarn und Helen Pasiali aus Griechenland könnten kaum unterschiedlicher sein. Für Europe Talks sprachen sie über Migration und gleichgeschlechtliche Ehen. © Foto: Charlotte Simon für ZEIT ONLINE

Die Art und Weise, wie wir politisch Andersdenkenden gegenübertreten, thematisierte auch Nora Bossong in Berlin. Sie plädierte in der aktuellen Corona-Debatte für mehr Toleranz: "Heute erleben wir, dass zunehmend wieder nach eindeutiger Wahrheit verlangt wird, nach Widerspruchsfreiheit und einer klaren Unterscheidung zwischen Gut und Böse." Man mache es sich zu einfach, wenn man der Realität ihre Uneindeutigkeit abspreche. Das Ergebnis seien sich gegenüberstehende Monologe statt einer offenen Debatte, sagte Bossong.

Im Fokus der diesjährigen Debatte stand neben der Pandemie auch der Klimaschutz. Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener Instituts am Helmholtz-Zentrum für Meeres-und Polarforschung, appellierte in ihrem Beitrag an die internationale Gemeinschaft, die Maßnahmen zum Klimaschutz zu verstärken: "Wir brauchen einen gerechteren Rahmen, damit die Verschmutzung der Atmosphäre und der Ozeane durch Treibhausgase viel teurer und der Umstieg auf grüne Energie für alle erschwinglicher wird." Die Ergebnisse der jüngsten UN-Klimakonferenz in Glasgow, auf der sie auch selbst vertreten war, bezeichnete die Meeresbiologin als wichtiges Zeichen.

In London kamen zehn Menschen zusammen, um über den Brexit zu debattieren. Unter ihnen Verfechter und Gegners des  EU-Austritts. Während die eine Seite die Handelserleichterungen mit Drittländern hervorhob, bedauerte die andere das Wiederaufkommen nationaler Egoismen: "Es ist ein Fehler, Türen zu schließen und Grenzen zu errichten, wo es früher keine gab." In Madrid diskutierte die spanische Fernsehmoderatorin Ana Pastor mit dem Chefredakteur der spanischen Zeitung El Confidencial, Nacho Cardero, über Europas Migrationspolitik.

Bart Staszewski, Filmemacher und Aktivist für LGBT+-Rechte, sprach in einem Interview in Warschau über die aktuelle politische Situation in seinem Heimatland. Diese habe sich durch die regierende PiS-Partei massiv verschlechtert. 2019 begann diese, im ganzen Land "LGBT-freie Zonen" auszurufen. Trotzdem bleibt Staszewski optimistisch: "Wir haben das polnische Stonewall erlebt, indem wir im ganzen Land Pride-Paraden organisiert haben, und viele Menschen wollen in Polen ein Teil dieser Bewegung sein."

Über die Wirkungsmacht von politischen Bewegungen sprach auch die Politologin Emilia Roig. In einem Impulsvortrag skizzierte sie ihre Vision für Europa. Roig betonte, dass jede gesellschaftliche Veränderung als utopischer Traum begonnen habe, von der Abschaffung der Sklaverei bis zu den LGBT+-Rechten. Um eine utopische Zukunft für Europa zu ermöglichen, sollten auch wir anfangen zu träumen, so ihr Appell.

Irene Plank, die Beauftragte für strategische Kommunikation im Auswärtigen Amt, die in diesem Jahr auch selbst an Europe Talks teilnahm, hob hervor, wie wichtig der grenzüberschreitende Dialog gerade in Zeiten der Pandemie sei: "Gespräche sind der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält und uns hilft, neue Perspektiven einzunehmen." Aus eigener Erfahrung wisse sie, was für eine einzigartige Erfahrung es sein könne, "aus unseren eigenen Filterblasen herauszutreten, sich gegenseitig kennenzulernen und unterschiedliche Standpunkte auszutauschen".