Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte in Princeton.

Der Historiker Reinhart Koselleck bemerkte einmal, Politik operiere mit "asymmetrischen Gegenbegriffen". Die Diagnose trifft unsere Gegenwart: "Spaltung" – was immer andere betreiben – schlecht. "Zusammenhalt" – den man selber stets zu stärken trachtet – gut. Begonnen hat die Karriere des durchgehend positiv verwandten Begriffs mit dem Aufstieg der AfD. Doch ist der Appell an den Zusammenhalt eine stumpfe Waffe im Kampf gegen den Rechtspopulismus. Gleichzeitig legt er die Latte für ein gelingendes Gemeinwesen viel zu hoch, weil Konflikt, der doch in einer freien Gesellschaft unvermeidbar ist, unter eine Art Generalverdacht gestellt wird. Es wird zudem suggeriert, Demokratie hänge ab von den richtigen Einstellungen – einem "Empfinden" von "gesellschaftlichem Miteinander", wie es im schönsten Sozialkundesound oft heißt, nicht von politischem Handeln oder funktionierenden Institutionen. Zusammenhalt, ein Begriff, der in anderen Demokratien kaum eine Rolle spielt, lenkt letztlich ab von realen Problemen wie maroder oder ganz fehlender Infrastruktur, die es Bürgern schlicht schwerer macht zusammenzukommen.

Wer Zweifel am Zusammenhalt anmeldet, wird schnell auf das Beispiel USA verwiesen: Dort sei die Gesellschaft völlig gespalten, zum Schaden der Demokratie; was jenseits des Atlantiks an Polarisierung abgehe, könne auch bei uns Realität werden – so warnte erst jüngst, unter dem Schock der lokalen AfD-Wahlerfolge, der sächsische Ministerpräsident (bisher eher als Russlandversteher denn als USA-Kenner in Erscheinung getreten). Energiewende, Heizungsgesetz, Flüchtlingspolitik und Russland-Embargo, so Michael Kretschmer, drohten die Gesellschaft zu "zerreißen".

Derartige Klagen müssen skurril klingen für jeden, der sich noch an die Nachrüstungsdebatte oder an Willy Brandts Ostpolitik erinnert. Ist ein Streit über Heizungen wirklich gleichzusetzen mit der Diffamierung eines SPD-Kanzlers als Landesverräter? Nun ist die Erinnerung an die Zeit vor 16 Jahren Merkel-Demobilisierung noch kein Argument. Das eigentliche Argument lautet: Demokratie ist keine Konsensveranstaltung, sondern eine moralisch anspruchsvolle Methode zur friedlichen Konfliktbewältigung, bei der sich freie und gleiche Bürger am Ende bereitfinden, die Legitimität von Mehrheitsentscheidungen anzuerkennen.

Der inflationäre Demokratiekrisendiskurs übersieht, dass eine Demokratie erst dann in der Krise, also einer Todesgefahr ausgesetzt ist, wenn die Kontrahenten sich in keiner Weise mehr als Konfliktpartner verstehen, sondern als Feinde – und dann zu Gewalt greifen. Die Bombardierung des Präsidentenpalasts in Santiago de Chile durch die Militärjunta 1973; der Angriff auf das Kapitol in Washington 2021: So sieht eine Krise der Demokratie aus.

Damit ist nicht gesagt, dass alles zum Besten steht, solange keine Waffen gezückt werden. Es ist auch nicht gesagt, dass jede friedliche Auseinandersetzung "produktiv" enden muss. Das Pendant zum kommunitaristischen Kitsch des Zusammenhalts-Diskurses ist die "Streitkultur", eine weitere deutsche Besonderheit, bei der immer unklar bleibt, was eigentlich den einen Streit produktiv und den anderen gefährlich macht.

Bei demokratisch ausgetragenen Konflikten lernen alle Seiten etwas: Neue Fakten werden präsentiert, an Argumenten wird gefeilt. Und wer denen nicht zustimmt, muss sich etwas Besseres einfallen lassen. Auch wenn man den Gegner nicht umstimmen wird, bemüht man sich doch, dem Wahlvolk die bestmöglichen Argumente nahezubringen – statt nur in den sozialen Medien hetzerische Clips für die eigenen Anhänger zu produzieren.

Wann sind Konflikte nicht mehr demokratieverträglich? Wenn eine Leitplanke der Auseinandersetzung geschrammt oder gar durchbrochen wird: Man kann allerlei Unhöfliches, gar persönlich Verletzendes über seine Gegner sagen. Aber man darf seinen Gegnern nicht grundsätzlich die Legitimität absprechen, insbesondere indem man suggeriert, sie seien existenzielle Feinde des Gemeinwesens oder, eine weniger offensichtliche Methode der Diffamierung, sie gehörten gar nicht zum Demos. Rechtspopulisten behaupten, allein ihre Anhänger seien the real people (so adressierte Trump die Aufrührer am 6. Januar 2021). Das hieße ja, dass es auch fake people gibt, die dann illegal an Wahlen teilnehmen und sie dadurch ungültig machen. Sprüche wie "Wir holen uns unser Land zurück" insinuieren, dass da irgendjemand sich des Landes bemächtigt hat, der gar nicht zum Land gehört – in diesem Fall wohl eine "globalistische" Elite, die als Gruppe Nicht-Volkszugehöriger in demokratischen Konflikten gar nicht auftreten dürfte.

Hier wird in der Tat kräftig gespalten: Politische Fragen werden auf Zugehörigkeit reduziert. Aber statt pauschal nach mehr Zusammenhalt zu rufen, sollte man klar sagen, dass es um die Auseinandersetzung mit Rechtspopulisten geht. Die können übrigens mit Zusammenhalts-Rhetorik gut leben – die Forderung nach nationalem Zusammenhalt, sprich Homogenität, ist ja Kern ihres politischen Geschäftsmodells. Und die Warnung vor Polarisierung hilft ihnen auf perverse Weise auch noch, denn sie suggeriert, die Republik sei in zwei homogene Gruppen geteilt, ergo: Das halbe Land hat man sich schon zurückgeholt! Diese Zwei-Welten-Theorie beschreibt jedoch ganz sicher nicht die Verhältnisse in Deutschland.

Viele Beobachter, die meinen, Populisten seien die großen Vereinfacher, hantieren mit der völlig unterkomplexen Unterscheidung von "Kosmopoliten" und "Kommunitariern". Natürlich gibt es Dissens in Sachen Zuwanderung, ebenso wie bei Klimaschutz und Sterbehilfe. Aber die Existenz zweier gigantischer, moralisch gleichgeschalteter Gesellschaftsblöcke, wonach vermeintliche "Kosmopoliten" dann auch immer gleich Veganer und Klimaschutzfanatiker seien, ist empirisch nicht nachweisbar.