Der Horror begann am Samstagmittag. Bald nach 13.30 Uhr am 10. Juni 1944 stoppten etwa 150 Soldaten des SS-Panzergrenadierregiments „Der Führer“ mit Panzerspähwagen südöstlich von Oradour-sur-Glane, einem kleinen Ort mit nominell 1574 Einwohnern im westlichen Zentralfrankreich. Einige von ihnen suchten nach Männern, Frauen und Kindern, um sie in den Ort zu treiben. Weitere fuhren durch Oradour und sperrten das Dorf von der anderen Seite. Parallel dazu drangen SS-Leute in die Häuser ein und zwangen die Bewohner, sich auf dem Marktplatz zu versammeln.
Der Kommandeur der SS-Bataillons, ein 29-jähriger SS-Sturmbannführer namens Adolf Diekmann, teilte dem Bürgermeister von Oradour mit, es gebe Informationen, dass sich in dem Ort Waffen befänden. Doch obwohl sich die Besitzer zulässiger Karabiner für die Jagd meldeten, fand eine angekündigte Durchsuchung nur ansatzweise statt.
Stattdessen wurden die ausnahmslos unbewaffneten männlichen Bewohner gruppenweise in vier Scheunen und Schuppen im Ortskern gebracht, die Frauen und Kinder mussten sich in der Kirche des Ortes versammeln. Dann gab der Kompanieführer Otto Kahn ein Signal, und an allen vier Gebäuden feuerten seine Untergebenen gleichzeitig auf 181 versammelte Männer. Wer das überlebte, wurde aus nächster Nähe erschossen. Die Leichen wurden mit brennbarem Material bedeckten und in Brand gesetzt – sie sollten verbrennen.
Etwa zur selben Zeit trugen einige SS-Leute eine mit weißen Schnüren versehene Kiste in die Kirche, in der die Frauen und Kinder warteten. Kaum waren die Kirchentüren geschlossen, explodierte die Kiste und setzte einen „schwarzen, beißenden und stechenden Rauch“ frei, der zum Ersticken führte, berichtete die Einwohnerin Marguerite Rouffanche. Sie entkam als einzige.
Die Frauen und Kinder gerieten in Panik, wollten die Todesfalle verlassen. Doch die SS-Leute schossen durch Fenster und Türen ins Innere der Kirche, warfen sogar Handgranaten; dann setzten sie die Kirche in Brand. Während dieses Teils des Massakers plünderten andere Uniformierte das Dorf und legten Feuer. Der romanische Bau brannte mit mindestens 461 Frauen und Kindern darin aus.
Von den Menschen, die sich gegen Mittag in oder um Oradour-sur-Glane aufgehalten hatten, entkamen dem Massaker nur sechs, darunter Marguerite Rouffanche. 642 Leichen blieben in dem ausgebrannten Dorf liegen, als die SS-Truppe gegen 21 Uhr abzog. Es war das mörderischste einzelne Massaker in Westeuropa während des Zweiten Weltkrieges, gemessen an der Zahl der Toten weit schlimmer als die Massaker von Maillé (124 Tote), Tulle (99 Opfer) oder Ascq (86 Tote), die allesamt SS-Verbände begingen, oder im Tal des Flusses Saulx (ebenfalls 86 Opfer), das Wehrmachtseinheiten verübten.
Die Ruinen von Oradour-sur-Glane sind eine große Gedenkstätte, ein neues Dorf ist neben ihnen errichtet worden. Zum 80. Jahrestag am 10. Juni 2024 tritt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zusammen mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron am authentischen Ort auf, den 2013 als erster höchster Repräsentant Deutschlands der damalige Bundespräsident Joachim Gauck besucht hatte, um der Opfer dieses deutschen Verbrechens zu gedenken.
Aber warum geschah das Massaker? Warum musste Oradour sterben? Das ist acht Jahrzehnte später, trotz zweier Prozesse in Bordeaux und Ost-Berlin sowie mehrerer, allerdings 2015 eingestellter Ermittlungsverfahren weiterhin unklar.
Einheiten wie die 2. SS-Panzerdivision „Das Reich“, zu der das Regiment „Der Führer“ zählte, waren wegen ihrer Härte im Kampf berüchtigt. Das traf auf den gesamten Krieg zu, obwohl das Regiment zum ersten Mal in der Schlacht vor Moskau 1941/42 und erneut bei Kursk im Sommer 1943 weitgehend aufgerieben worden war. Nur wenige der Männer, die in Oradour wüteten, hatten bereits länger in dieser Einheit gedient.
Die ganze Division hatte sich zur Auffrischung in Südfrankreich befunden, als am 6. Juni 1944 die Invasion in der Normandie begann. Als kampfstarke Panzerdivision war „Das Reich“ ein wesentlicher Faktor für die Kämpfe im Norden und wurde deshalb in Marschbereitschaft versetzt.
Schon einen Tag später aber folgte ein anderer Befehl: Nun sollte sich die Division an „Säuberungsunternehmen“ gegen französische Freischärler beteiligen: „Die Entwicklung der Bandenlage im Zentralmassiv fordert sofortiges und rücksichtsloses Zuschlagen starker Kräfte.“ Die SS-Division sollte zuerst die „besonders starke Bandenbildung“ in Tulle bekämpfen.
Hier rollten ihre Panzer am 9. Juni 1944 ein; französische Freischärler, die in der übertriebenen Hoffnung auf schnelle Unterstützung der Alliierten einige Stunden lang die deutsche Garnison eingekesselt hatten, waren längst verschwunden. Trotzdem knüpften die SS-Soldaten 99 Männer an Laternenpfählen und Balkonen auf.
Verantwortung dafür trug Divisionskommandeur Heinz Lammerding, der schon am Tag vor der Invasion Vergeltungsmaßnahmen wie an der Ostfront empfohlen hatte. Der Tagesbefehl für die nächsten 24 Stunden sah vor, dass sich die Division auf den Weg nach Norden machen sollte, um schnellstmöglich in die Kämpfe in der Normandie einzugreifen.
Zwar galt der an sich schon verbrecherische Bandenbekämpfungsbefehl weiterhin, den der Oberbefehlshaber West, Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, und der Militärbefehlshaber von Frankreich, General Carl-Heinrich von Stülpnagel, verantworteten. Doch ein direkter Befehl für eine Vergeltungsaktion erging wohl nicht.
Warum musste Oradour-sur-Glane also untergehen? Akten und Zeugenaussagen darüber sind zahlreich, geschätzt mehr als 40.000 Blatt. Untersucht haben den Fall unter anderem der Oldenburger Politikwissenschaftler Ahlrich Meyer, der sich intensiv mit der deutschen Besatzung Frankreichs beschäftigte, und die Historikerin Andrea Erkenbrecher, die neben anderen Publikationen eine Studie über „Oradour und die Deutschen“ vorgelegt hat, die „Geschichtsrevisionismus, strafrechtliche Verfolgung, Entschädigungszahlungen und Versöhnungsgesten ab 1949“ analysiert (de Gruyter-Oldenbourg 2023. 674 S., 84,95 Euro).
N24 Doku – Der Sender für Dokumentationen und Reportagen
Von Geschichte, Natur und Wissenschaft bis hin zu Technik, Gesellschaft und Kultur bietet N24 Doku den Zuschauerinnen und Zuschauern eine Vielfalt an tiefgründigen und fesselnden Programmen.
Quelle: N24 Doku
Laut einer möglichen Erklärung suchten die Männer von Diekmanns Bataillon nach dem vermissten, von französischen Partisanen gefangen genommenen SS-Sturmbannführer Helmut Kämpfe. Eine Variante besagt, dass sie 30 Geiseln nehmen sollten, um die Freilassung von Kämpfe zu erzwingen. Doch diese Version ist wenig glaubhaft. Nach den Aussagen aller sechs Überlebenden und der zahlreichen befragten Augenzeugen von Täterseite gab es einen solchen Befehl nicht; im Gegenteil stand schon vor der Einkesselung des Ortes fest, dass Oradour ausgelöscht werden würde.
Nach der zweiten Erklärung glaubte Diekmann, in Oradour-sur-Glane läge ein regionales Hauptquartier der französischen Freischärler. Doch das traf nicht zu; es handelte sich dabei um das Dorf Oradour-sur-Vayres 30 Kilometer weiter südwestlich. Mussten 642 Menschen sterben, weil zwei Dörfer miteinander verwechselt wurden?
Eine dritte Möglichkeit ist, dass der Bataillonskommandeur einen direkten Befehl bekommen hatte, Oradour-sur-Glane auszulöschen. Das jedenfalls sagte sein Untergebener Otto Kahn nach dem Krieg aus: „Diekmann eröffnete mir, dass als Befehl die Niederbrennung und Vernichtung des Dorfes Oradour eingegangen sei, was ich auszuführen hätte.“ Der SS-Offizier fiel am 29. Juni 1944 in der Normandie. Deswegen, und weil keine aussagekräftigen Unterlagen erhalten sind, kann das zwar sein, es lässt sich aber nicht nachweisen.
Laut einer vierten Version hatten französische Informanten der SS mitgeteilt, Oradour-sur-Glane sei eine Hochburg der Partisanen. Ob aus Niedertracht oder um die Aufmerksamkeit der Deutschen abzulenken, ist ebenso unklar wie der Wahrheitsgehalt dieser Erklärung.
Das Massaker am 10. Juni 1944 steht in Frankreich bis heute und sicher auch in den kommenden Jahren stellvertretend für viele Untaten der Waffen-SS (und auch der Wehrmacht) auf französischem Boden 1940 bis 1944. Vor diesem Hintergrund ist die scharfe Reaktion der Rechtspopulistin Marine Le Pen auf die verharmlosenden Äußerungen des AfD-Spitzenkandidaten bei der Europawahl Maximilian Krah zur Waffen-SS alles andere als überraschend.