Die Entscheidung musste in den ersten paar Stunden fallen – das wussten beide Seiten. Entweder es würde den amerikanischen, britischen und kanadischen Truppen (sowie einigen wenigen Franzosen) gelingen, einen Brückenkopf in der Normandie zu besetzen; dann würde die bis dahin größte einzelne Militäraktion der Geschichte voraussichtlich gelingen, wie 1942 in Nordafrika und 1943 in Italien. Oder die deutschen Verteidiger des „Atlantikwalls“ könnten die Invasionskräfte ins Meer zurückzutreiben; dann würde 1944 sicher kein zweiter Versuch einer Landung in Frankreich mehr unternommen werden.
Im Einsatz waren 6939 alliierte Seefahrzeuge aller Art, darunter 1213 Kriegs- und 736 Hilfsschiffe, 864 zivile Dampfer sowie 4126 Landungsboote. 1200 Transportflugzeuge und 700 Lastensegler sollten Luftlandetruppen an ihr Ziel bringen. Fast 157.000 Soldaten in 18 Divisionen – rund 73.000 GIs sowie gut 83.000 Briten und Kanadier, ferner 177 Männer der Freien Französischen Streitkräfte – sollten am Dienstag, dem 6. Juni 1944, die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus entscheidend beschleunigen; 1500 Panzer sollten ihnen dabei helfen. Als Reserven standen weitere 20 Division mit 3500 Panzern in Südwestengland bereit.
Dieser Armee standen an der Küste der Normandie gerade einmal 50.350 Soldaten der Wehrmacht gegenüber. Außer ihren Bunkern über den Stränden verfügten sie südlich der Stadt Caen über 220 Panzer und Sturmgeschütze. Weitere deutsche Truppen, darunter drei Panzerdivisionen, lagen in maximal hundert Kilometern Entfernung im Hinterland, konnten also innerhalb weniger Stunden verlegt werden. Noch einmal vier Panzerdivisionen, davon drei der Waffen-SS, standen weiter im Landesinneren – allerdings mit zusammen nur gut 1000 Panzern.
Aber trotz dieser drückenden Überlegenheit war der Erfolg der „Operation Overlord“ keineswegs garantiert. Im Gegenteil gab es viele Unwägbarkeiten: Würde das Wetter mitspielen? Die Vorhersagen sahen düster aus. Wie stark waren die deutschen Küstenstellungen? Die Nachrichten widersprachen einander. Schließlich: Würden die Alliierten das Quäntchen Glück haben, das man im Krieg stets braucht? 36 Stunden dauerte es vom endgültigen Befehl zum Angriff bis zur Vollzugsmeldung nach Washington D.C. und London. Alle Zeitangaben beziehen sich auf die Ortszeit in der Normandie.
Montag, 5. Juni 1944
Southwick House bei Portsmouth, 04:15 Uhr – In seinem Hauptquartier erteilt der alliierte Oberbefehlshaber, US-General Dwight D. Eisenhower, den unwiderruflichen Befehl, die Invasion zu beginnen.
Südengland, 05:00 Uhr – Bei sechs Windstärken und hoher Dünung laufen rund 3000 Schiffe aus den Häfen von Plymouth im Westen bis Brighton im Osten aus, um sich südlich der Isle of Wight im Ärmelkanal zu sammeln.
Herrlingen bei Ulm, 07:00 Uhr – Generalfeldmarschall Erwin Rommel, verantwortlich für die Abwehr einer alliierten Invasion in Frankreich, gönnt sich auf dem Weg zu einer Besprechung mit Hitler, die für den 8. Juni angesetzt ist, einen freien Tag bei seiner Familie.
Ärmelkanal südlich der Isle of Wight, 12:00 Uhr – Die ersten Schiffe der Invasionsflotte beginnen mit der bis zu 17-stündigen Überfahrt in die Normandie.
Southwick House, 13:15 Uhr – Nach dem Lunch informiert Eisenhower einige ausgewählte Journalisten, dass die Landung am folgenden Morgen beginnen werde. Gleichzeitig verpflichtet er sie zu strengstem Stillschweigen bis zum Dienstagmorgen. Alle halten sich daran.
Paris, gegen 17:00 Uhr – Im Hauptquartier des deutschen Oberbefehlshabers West wird notiert: „Ein unmittelbares Bevorstehen der Invasion ist noch nicht erkennbar.“
Southwick House, 18:00 Uhr – Eisenhower verlässt sein Hauptquartier, um einen Flugplatz der 101. US-Luftlandedivision zu besuchen und den Soldaten Mut für die bevorstehenden Kämpfe zuzusprechen.
London, 21:15 Uhr – Die BBC strahlt in ihrem französischen Programm zwei Zeilen aus Paul Verlaines Gedicht „Chanson d’automne“ aus. Es ist das Signal für die Résistance, dass die Invasion binnen der nächsten Stunden erfolgt.
Südengland, 23:00 Uhr – Auf mehreren Fliegerhorsten in Südengland besteigen britische und US-Luftlandetruppen ihre Transportflugzeuge oder Lastensegler.
Dienstag, 6. Juni 1944
Caen, 00:18 Uhr – Am östlichen Rand des Invasionsgebietes springen britische Fallschirmjäger ab. Sie sind die ersten alliierten Soldaten, die auf französischem Boden landen.
Caen, 00:20 Uhr – Direkt neben der Brücke über den Caen-Kanal landen drei „Horsa“-Lastensegler der 6. britischen Luftlandedivision. Binnen zehn Minuten besetzen gut 80 Mann die unversehrte Brücke.
Sainte-Mère-Église, 00:48 Uhr – Die ersten Fallschirmspringer der 101. US-Division landen am westlichen Rand des Invasionsgebietes. Die Landung misslingt, die Männer werden über Dutzende Quadratkilometer verstreut.
Merville, 00:50 Uhr – Die zweite Welle der britischen Fallschirmjäger springt ab. Ihr wichtigstes Ziel ist eine deutsche Batterie in Strandnähe.
Saint-Lô, 01:11 Uhr – Im Hauptquartier des LXXXIV. Armeekorps schrillt das Feldtelefon. Der Kommandierende General Erich Marcks erfährt von größeren alliierten Luftlandeoperationen. Er erkennt sofort, dass die Invasion begonnen hat.
Southwick House, 01:15 Uhr – Eisenhower kehrt zurück in sein Hauptquartier. Er wartet hier auf erste Nachrichten aus der Normandie.
Saint-Lô, 01:25 Uhr – Marcks befiehlt der 352. Infanteriedivision an der Normandieküste Alarmbereitschaft.
Brücke über die Merderet, 01:51 Uhr – Die 82. US-Luftlandedivision beginnt ihre Landung. Doch nur ein Viertel der 6500 Männer kommt im Umkreis von einer Meile um die Landezone zu Boden.
Berchtesgaden, 02:10 Uhr – Im „Berghof“ auf dem Obersalzberg geht Adolf Hitler nach einem langen Abend zu Bett.
Le Mans, 02:15 Uhr – Generalmajor Max Pemsel, Chef des Stabes der 7. Armee in der Normandie, weckt seinen Vorgesetzten Friedrich Dollmann: „Herr Generaloberst, ich glaube, wir haben die Invasion. Würden Sie bitte herüberkommen?“
La Roche-Guyon, 2:20 Uhr – Pemsel telefoniert mit Generalleutnant Hans Speidel, dem Chef von Rommels Stab. Speidel zeigt sich skeptisch, ob die Absprünge von Fallschirmjägern tatsächlich den Beginn der Invasion darstellen.
Paris, 02:40 Uhr – General Günther Blumentritt, Chef des Stabes beim Oberbefehlshaber (OB) West, teilt Pemsel mit: „Nach Ansicht OB West handelt es sich nicht um Großaktion.“
Paris, 02:55 Uhr – Generalfeldmarschall Gerd von Rundstedt, der OB West, gibt die Nachricht über die Ereignisse in der Normandie an den „Berghof“ durch.
Merville, 02:57 Uhr – Mit nur 155 seiner 650 Männer macht sich Oberstleutnant Terence Otway auf den Weg zu seinem Ziel für diese Nacht, eine schwer befestigte Strandbatterie.
Caen, 03:15 Uhr – Die Männer der 21. deutschen Panzerdivision lassen auf Befehl des Ob West die Motoren ihrer Fahrzeuge warmlaufen. Sie verfügen über rund 120 Panzer IV und etwa 100 Sturmgeschütze.
Paris, 03:45 Uhr – Die deutsche Seekriegsleitung erfährt, dass laut Radarmessungen eine große Flotte im Ärmelkanal auf dem Weg Richtung Normandie ist.
Ärmelkanal, 04:00 Uhr – An Bord des Truppentransporters USS „Samuel Chase“ prüft der Fotograf Robert Capa zum letzten Mal seine Kameras. Dann besteigt er zusammen mit Männern der 1. US-Infanteriedivision ein Landungsboot.
Paris, 04:15 Uhr – Rundstedt ist überzeugt, dass die alliierte Landung in Kürze in der Normandie beginnen wird. Er fordert die Panzerreserven an.
Merville, 04:25 Uhr – 155 britische Fallschirmjäger stürmen die Batterie bei Merville. Ein blutiger Nahkampf beginnt.
Sainte-Mère-Église, 04:35 Uhr – Ein US-Fallschirmjägerregiment nimmt das Dorf nach kurzem Kampf ein.
Merville, 04:55 Uhr – Die Strandbatterie ist erobert. Von den 155 Briten, die angegriffen haben, sind nur noch 80 kampffähig.
Vor Omaha Beach, 05:00 Uhr – Alle Landungsboote der ersten US-Welle tuckern durch unruhige See auf die Landezone zu.
Normandie, 05:15 Uhr – Es wird so hell, dass man den wolkenverhangenen Himmel erkennen kann. Ein regnerischer, kühler und windiger Tag beginnt.
Vor der Küste der Normandie, 05:30 Uhr – Auf die Minute pünktlich eröffnen 28 alliierte Schlachtschiffe und Kreuzer Trommelfeuer auf die deutschen Stellungen in den fünf Landezonen.
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Vor Omaha Beach, 05:40 Uhr – 29 Schwimmpanzer werden aus Panzerlandungsschiffen abgesetzt. Doch das geschieht fast drei Seemeilen vor der Küste und damit angesichts der hohen Dünung viel zu weit im Meer. 27 der Sherman-Tanks gehen unter, nur zwei schaffen es an den Strand.
Vor Omaha Beach, 06:15 Uhr – Schlagartig stellen die Kriegsschiffe das Feuer auf die deutschen Strandstellungen in den beiden US-Landezonen ein.
Berchtesgaden, 06:25 Uhr – Der Chef des Wehrmachtführungsstabes, Generaloberst Alfred Jodl, widerruft Rundstedts Befehl, die Panzerreserven in Nordfrankreich Richtung Normandie in Gang zu setzen.
Herrlingen, 06:30 Uhr – Rommel erfährt von alliierten Fallschirmspringern in der Normandie.
Omaha Beach, 06:31 Uhr – Mit der ersten Welle der US-Infanterie stürmt Robert Capa durch hüfttiefes Wasser Richtung Strand. Schweres MG-Feuer erwartet sie. Die Männer der A-Kompanie des 116. Infanterieregiments werden in den ersten zehn Minuten zu 96 Prozent getötet oder verletzt.
Pointe du Huc westlich von Omaha Beach, 07:10 Uhr – 225 US-Ranger gehen an Land, um eine auf einer Klippe gelegene Batterie zu erobern. Sie haben 40 Minuten Verspätung.
Östliche Küste der Normandie Beach, 07:15 Uhr – Vor den drei Landezonen der britisch-kanadischen Truppen, Gold Beach, Juno Beach und Sword Beach, endet das Trommelfeuer. Die Landungsboote stampfen die letzten wenigen Hundert Meter zum Strand.
Omaha Beach, 07:40 Uhr – Am Omaha Beach wird heftig gekämpft. Die US-Truppen sind am Strand stecken geblieben. Hunderte Männer sterben.
Southwick House, 08:15 Uhr – Von den Landezonen kommen nur Informationssplitter bei Eisenhower an. Ein Bild der Ereignisse am Strand kann er sich nicht machen.
Omaha Beach, 08:30 Uhr – Robert Capa liegt seit zwei Stunden am Omaha Beach. Jetzt packt ihn die Panik. Der Kriegsreporter flüchtet sich auf ein Landungsboot und fährt zurück zum nächsten Truppentransporter.
Sword Beach, 08:50 Uhr – Die britische 1. Kommandobrigade geht an Land. Ihre Männer sollen bis 13 Uhr die Fallschirmjäger an den Brücken über den Caen-Kanal und die Orne verstärken.
Ärmelkanal, 08:55 Uhr – Auf der „USS Augusta“, dem Flaggschiff der Invasionsflotte, denkt Eisenhowers Vertrauter General Omar Bradley darüber nach, die Landungszone Omaha Beach aufzugeben.
Berchtesgaden, 09:15 Uhr – Die Informationen aus der Normandie verdichten sich immer mehr: Es findet tatsächlich eine groß angelegte Landung statt.
Omaha Beach, 09:40 Uhr – Auf der östlichen Seite von Omaha Beach gelingt US-Soldaten nach drei Stunden am Strand der erste Einbruch in die deutschen Linien.
Vor der Küste der Normandie, 09:55 Uhr – An Bord des Schlachtschiffs „USS Texas“ befiehlt Konteradmiral Carleton F. Bryant seinen Kanonieren: „Immer drauf, Männer! Immer drauf! Auf dem Strand ist die Hölle los!“ Sofort setzt ein schweres Feuer auf die deutschen Stellungen ein.
Herrlingen, 10:05 Uhr – Speidel telefoniert erneut mit Rommel. Beiden ist klar, dass es sich um die große Invasion handelt. Rommel sagt das geplante Treffen mit Hitler ab und macht sich auf den Rückweg nach Nordfrankreich.
Southwick House, 10:45 Uhr – In Eisenhowers Hauptquartier treffen erste detaillierte Berichte aus der Normandie ein. An vier von fünf Landestränden ist die deutsche Küstenverteidigung überwunden. Am Omaha Beach allerdings bleibt die Lage bei hohen Verlusten kritisch.
Berchtesgaden, 11:00 Uhr – Hitler wacht auf und erfährt, dass in der Normandie etwas vor sich geht. Allerdings hält er es nicht für nötig, an seinem Tagesplan etwas zu ändern.
London, 11:30 Uhr – Premierminister Winston Churchill macht sich auf den Weg ins Unterhaus, um eine Rede über die laufende Invasion zu halten.
Omaha Beach, 11:45 Uhr – Die 1. US-Infanteriedivision hat vier Brückenköpfe auf den Dünen erobert.
Normandie, 11:50 Uhr – Die Wolkendecke sinkt auf 100 Meter; es regnet leicht. Alliierte Jagdbomber können bei diesem Wetter nicht angreifen.
Omaha Beach, 12:30 Uhr – George A. Taylor, der Kommandeur des US-Infanterieregiments 16, befiehlt den Angriff: „Nur zweierlei Leute bleiben auf dem Strand: die Toten und die Sterbenden. Alle anderen: vorwärts!“
Salzburg, 13:00 Uhr – Nach seiner Ankunft in Schloss Kleßheim hält Hitler eine kurze Lagebesprechung ab. Goebbels hält fest: „Der Führer ist außerordentlich aufgekratzt. Die Invasion findet genau an der Stelle statt, wo wir sie erwartet hatten, und auch genau mit den Mitteln und Methoden, auf die wir uns vorbereitet haben. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn wir nicht damit fertig würden.“
Caen, 13:02 Uhr – Die Soldaten der britischen 1. Kommandobrigade erreichen die Brücken über den Caen-Kanal und die Oise. Lässig bittet ihr Kommandeur den Befehlshaber der britischen Fallschirmspringer vor Ort um Entschuldigung für die zweiminütige Verspätung.
Saint-Lô, 13:35 Uhr – General Marcks erhält die unzutreffende Meldung, die alliierten Truppen seien ins Meer zurückgetrieben worden.
Omaha Beach, 13:40 Uhr – US-Einheiten stoßen einen Kilometer ins Hinterland vor.
Bei Caen, 14:15 Uhr – Die 12. SS-Panzerdivision „Hitlerjugend“ bekommt den Befehl, zur Küste vorzustoßen. Doch jetzt ermöglicht besseres Wetter den alliierten Tieffliegern Angriffe auf die Division.
Nogent-le-Rotrou, 14:45 Uhr – Die Panzerlehrdivision, ein neu aufgestellter Eliteverband mit 170 modernen Kampfwagen, bekommt den Befehl, den 150 Kilometer langen Marsch in die Normandie vorzubereiten.
Omaha Beach, 15:30 Uhr – Die letzten deutschen Soldaten räumen ihre Stellung oberhalb des Strandes.
Southwick House, 16:15 Uhr – Exakt 36 Stunden nach der Entscheidung für die Invasion informiert Eisenhowers Hauptquartier die britische Regierung und den US-Generalstab: Alle fünf Landezonen sind gesichert; Material und weitere Truppen werden an die Küste gebracht. Auf einer Breite von insgesamt etwa 50 Kilometern sind alliierte Truppen zwischen einem und fünf Kilometern ins Landesinnere vorgestoßen. Etwa 156.200 Mann sind seit Mitternacht in der Normandie an Land gegangen; es gibt allerdings rund mehr als 4000 Tote, dazu tausende Verletzte und Vermisste. Ähnlich hoch sind die deutschen Verluste.
Die Invasion ist gelungen, die „Zweite Front“ in Europa steht. Jetzt sitzt das Dritte Reich in der Zange von West- und Ostfront. Der 6. Juni 1944 wird zur entscheidenden Zäsur, denn nun kann Hitler den Zweiten Weltkrieg nur noch verlieren – nach den Erwartungen von Eisenhower und seinem Stab eher früher als später.