Das „Wunder“ begann mit einem weitgehenden Fehlschlag. Ein Fernschreiben berichtete in bewusst verschleierten Worten davon: „Nachdem Abfahrt Maikäfer aus technischen Gründen um eine Stunde verschoben war, sollte am 13. Juni aus 55 verschiedenen betriebsfähig gemeldeten Bahnhöfen Abfahrt der Urlauber Heinemann erfolgen.“ Doch das Ergebnis war mehr als enttäuschend: „In Wirklichkeit sind im Laufe der Nacht nur zehn Züge abgefahren, davon hatten vier Züge Betriebsstörungen auf der Strecke in Nähe der Bahnhöfe.“
Im Klartext bedeutete diese kryptische Nachricht, dass in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1944 von 55 der insgesamt 64 gebauten Startrampen in Korridoren zwischen den nordfranzösischen Städten Calais und Dieppe Fluggeräte des Musters FZG 76 (für „Flak-Ziel-Gerät“) oder auch Fieseler Fi 103 gestartet werden sollten. Die meisten zielten der Ausrichtung der Rampen wegen auf den Großraum London, weitere auf Portsmouth und Southampton.
Doch zuerst musste der Einsatz um eine Stunde verschoben werden, dann gelang lediglich von zehn der einsatzbereiten Rampen der Start, und von diesem knappen Fünftel des eigentlich geplanten Schlages ging auch noch fast die Hälfte bald nach dem Start verloren. Zwei weitere stürzten noch dazu in den Ärmelkanal, sodass nur vier FZG 76 in Südengland einschlugen.
Eine davon, die gegen 4.30 Uhr morgens im Londoner Stadtteil Bethnal Green an der Eisenbahnbrücke über die Grove Street einschlug, tötete sechs Menschen und verletzte 26 weitere. Neben schweren Schäden an der Brücke wurden zwölf Häuser vollständig zerstört und über 50 Häuser mit unterschiedlichem Schweregrad beschädigt.
Von diesen Folgen des Einschlages erfuhr man in Deutschland nichts. Gemessen am Aufwand hatte sich der erste Einsatz der vermeintlichen „Wunderwaffe“, besser bekannt als „Vergeltungswaffe“ oder (später) als „V-1“ als Rohrkrepierer erwiesen. Doch das blieb nicht so: In der Nacht vom 15. auf den 16. Juni 1944 starteten von inzwischen 96 fertiggestellten Rampen mehr als 200 V-1, von denen 144 England erreichten. 73 schlugen im Großraum London ein, weitere 53 in Southhampton und Portsmouth.
Über den Umweg Stockholm erfuhr die gleichgeschaltete deutsche Presse davon und zitierte in vielen Ausgaben vom Samstag, dem 17. Juni, die britische Nachrichtenagentur Reuters: „Südengland wurde im Laufe der Nacht zum Freitag durch Feindflugzeuge, die in drei Intervallen über den Kanal kamen, angegriffen. Beim Überfliegen der Küstengebiete und auf dem Flug landeinwärts stießen sie auf ein furchtbares Sperrfeuer der Flak. Es werden Schäden und Verluste gemeldet.“
Als Reaktion gab das britische Innenministerium am 16. Juni eine Bekanntmachung für die Öffentlichkeit heraus: „Wenn der Motor eines unbemannten Flugzeugs aussetzt und am Ende der Maschine ein Licht erscheint, dann kann das bedeuten, dass die Explosion bald darauf folgt, vielleicht in 5 bis 15 Sekunden. Sucht deshalb Schutz vor der Explosion. Auch diejenigen, die sich in Räumen befinden, müssen den festesten verfügbaren Schutz aufsuchen.“
Noch deutlich schlimmer als die materiellen Schäden, die der Flugkörper anrichten konnte, war nämlich seine psychologische Wirkung: Das eigenwillige, entfernt an schlecht eingestellte, aber sehr schnell laufende Dieselmotoren erinnernde Geräusch der V-1 versetzte die Londoner teilweise in Panik. In der zweiten Junihälfte musste General Dwight D. Eisenhower, der Oberbefehlshaber der alliierten Invasionsstreitkräfte, große Teil seiner Luftstreitkräfte zu Angriffen auf die Startrampen östlich der Seine abordnen, die dann den Soldaten bei den Kämpfen in der Normandie fehlten.
Die V-1 war seit 1942 ein Projekt der Luftwaffe; Ziel war es, die begrenzten Ressourcen für offensive Einsätze effizienter einzusetzen – die meisten Mittel flossen zu dieser Zeit bereits in die Abwehr britischer Bomber über Deutschland. Die Fieseler-Werke, die sonst vor allem das Verbindungsflugzeug Fieseler Storch bauten, entwickelten um ein neu konzipiertes, einfaches Schubtriebwerk eine unbemannte Flügelbombe: den ersten massenproduzierten Marschflugkörper der Kriegsgeschichte.
Im Wesentlichen handelte es sich um einen ungesteuerten Flugkörper, der zwar Höhen- und Seitenruder hatte, die aber vornehmlich zur Stabilisierung der Flugbahn geeignet waren. Dazu diente ein einfacher Kreiselkompass, der wie die Ruder und die Treibstoffförderung für das Staustrahltriebwerk mit Druckluft betrieben wurde. Mit 7,9 Meter Länge, einer Spannweite von 5,3 Meter und einer Marschgeschwindigkeit von 580 bis 640 Kilometern pro Stunde erreichte sie eine maximale Reichweite von 350 Kilometern; die Flugdauer vom Start bis zum Einschlag im Ziel betrug zwischen 15 und 30 Minuten.
Die V-1 war so einfach aufgebaut, dass man nur 280 Arbeitsstunden brauchte, eine Flugbombe herzustellen – das sollte die Großserienfertigung ermöglichen. Die Idee war, mit deutlich geringerem Aufwand als bei konventionellen Luftangriffen ähnlich viel Zerstörungspotenzial ins Ziel zu bringen.
Der Flugkörper wurde auf das Ziel gerichtet gestartet und flog dann eine definierte Zeit, die eingestellt werden konnte. Nach Ablauf der Zeit ging das Triebwerk aus, und die Höhenruder kippten die V-1 in Richtung Boden. Beim Aufschlag detonierte der 850 Kilogramm schwere Sprengkopf.
Erste Flugversuche hatten im Sperrgebiet Peenemünde auf der Ostsee-Insel Usedom stattgefunden, wo auch das Heer seine ballistische Rakete V-2 erprobte (korrekter technischer Name A-4, für „Aggregat 4“). Aus Informationen von Widerstandskämpfern und durch erfolgreiche Spionage erfuhren die Alliierten von der Bedeutung der Anlagen in Peenemünde, und am 17. August 1943 starteten sie einen vernichtenden Bombenangriff.
Zu dieser Zeit stand die V-1 kurz vor der Serienreife, und im besetzten Frankreich wurden bereits die ersten stationären Startrampen errichtet. Dennoch dauerte es noch zehn Monate, bis es zum ersten Angriff mit der V-1 kam – in der Nacht vom 12. auf den 13. Juni 1944.