Ein kluger Kommandeur sorgt vor. Seit Februar 1944 hatte General Dwight D. Eisenhower immer wieder am wichtigsten Befehl seiner Karriere gefeilt. Knapp vier Monate später wurden die 236 Wörter des fertig gestellten Originaltextes zehntausendfach gedruckt und im Verlauf des 5. Juni 1944 an jene amerikanischen, britischen, kanadischen und (wenigen) französischen Soldaten verteilt, die am D-Day die ersten Wellen beim Angriff auf das von Hitlerdeutschland besetzte Frankreich bildeten.
Da ein so oft vervielfältigter Befehl schon vor der Verteilung durch viele Hände ging und daher nicht völlig geheim gehalten werden konnte, enthielt der Text keinerlei konkrete Angaben. Nichts sollte dem Gegner nutzen können, wenn er vorab irgendwie davon erfuhr. Entsprechend vage musste formuliert werden – die Kunst war, den Text dennoch motivationsfördernd zu gestalten.
„Soldaten, Matrosen und Flieger der alliierten Expeditionsstreitkräfte“, begann der Tagesbefehl: „Sie stehen kurz davor, den großen Kreuzzug zu beginnen, auf den wir seit vielen Monaten hinarbeiten. Die Augen der Welt sind auf Sie gerichtet. Die Hoffnung und die Gebete freiheitsliebender Menschen überall auf der Welt begleiten Sie.“
Wahrscheinlich die meisten der insgesamt 157.000 Männer, die sich am Vortrag des „Entscheidungstages“ (für „Decision Day“ – so eine der gängigen Deutungen der Formel D-Day, die aber vielleicht wie „Tag X“ im Deutschen oder „Jour J“ im Französischen auch gar keine Bedeutung hat) bereitmachten für ihren potenziell tödlichen Einsatz, dürften diesen Befehl gelesen oder zumindest von ihren Kameraden gehört haben. So erfuhren sie, was ihr oberster militärischer Vorgesetzter „Ike“ Eisenhower von ihnen erwartete:
„Gemeinsam mit unseren tapferen Verbündeten und Waffenbrüdern an anderen Fronten werden Sie die deutsche Kriegsmaschinerie zerstören, die Nazi-Tyrannei über die unterdrückten Völker Europas beseitigen und Sicherheit für uns in einer freien Welt schaffen“, schrieb der General. Ausweislich der in der Eisenhower Presidential Library in Abilene (US-Bundesstaat Kansas) erhaltenen, handschriftlich korrigierten Entwürfe hatte er intensiv an den Formulierungen gearbeitet – den Halbsatz „und Sicherheit für uns in einer freien Welt schaffen“ zum Beispiel ergänzte er von eigener Hand.
Doch keinesfalls wollte der Oberbefehlshaber die bevorstehende Kämpfe kleinreden: „Ihre Aufgabe wird nicht leicht sein“, mahnte er an seine Truppen: „Ihr Feind ist gut ausgebildet, gut ausgerüstet und kampferprobt. Er wird erbittert kämpfen.“ Das hatte Eisenhower sowohl in Nordafrika an November 1942 als auch in Italien ab Juli 1943 erlebt – beide letztlich erfolgreichen Invasionen hatte der General geleitet.
Diesmal aber ging es um mehr, denn vom Invasionsraum aus, der Normandie, waren es nur etwa 520 Kilometer Luftlinie bis zur deutsch-französischen Grenze nahe Saarbrücken. Die Invasion in der Normandie zielte, das wusste 1944 jedermann, auf das Reich selbst: Es ging darum, Hitlerdeutschland notfalls auf eigenem Territorium niederzuwerfen.
Zwar war Eisenhower 1918 als junger Offizier gegen seinen eigenen Wunsch nicht mehr nach Europa verschifft worden, hatte also aktiv am Ersten Weltkrieg nicht mehr teilgenommen. Doch er wusste, dass der Verteidigungswille selbst eines massiv unterlegenen Feindes wuchs, je näher die Kämpfe an der eigenen Heimat stattfanden. Schon deshalb erwartete er heftigste Gegenwehr am 6. Juni 1944.
Und als kluger Kommandeur war ihm klar, dass er im Falle eines Scheiterns die Verantwortung zu übernehmen hatte. Am 5. Juni um 4.15 Uhr morgens hatte er die Entscheidung getroffen, die Invasion weiterlaufen zu lassen, obwohl die Wettervorhersagen schlecht waren und deswegen innerhalb seines Führungsstabes Meinungsverschiedenheiten aufkamen. Doch Eisenhower wusste, dass bei einem Abbruch wegen der Gezeiten erst am 19. Juni wieder eine Landung an den Stränden der Normandie im Morgengrauen möglich sein würde.
Kurz nach einem Motivationsbesuch bei US-Fallschirmjägern am Abend des 5. Juni nahm er sich einen Moment Zeit. Das Gespräch mit den Elitesoldaten des 502. Regiments der 101. US-Division, die bereits ihre Gesichter geschwärzt hatten, signalisierte ihm (obwohl das an sich unnötig war) einmal mehr die Bedeutung seiner Entscheidung für den laufenden Krieg: Tausende Männer unter seinem direkten Kommando würden am 6. Juni 1944 sicher sterben, viele zehntausend mussten ihr Leben einsetzen.
Also notierte er schnell auf einen kleinen Zettel genau 65 Wörter (fünf weitere hatte er durchgestrichen). Übersetzt lautete diese Botschaft: „Unserer Landung in der Gegend von Cherbourg-Havre ist es nicht gelungen, einen zufriedenstellenden Stand zu erreichen, und ich habe die Truppen zurückgezogen. Meine Entscheidung, zu dieser Zeit und an diesem Ort anzugreifen, beruhte auf den besten verfügbaren Informationen. Die Truppen, die Luftwaffe und die Marine haben alles getan, was Tapferkeit und Pflichterfüllung bewirken konnten. Wenn dem Versuch irgendeine Schuld oder ein Fehler anhaftet, so ist das allein meine Schuld.“
Wie sehr Eisenhower unter Druck stand, als er das festhielt, lässt sich am irrtümlich falschen Datum ablesen: Unter die Notiz schrieb er „5. Juli“ statt korrekt 5. Juni. Jedenfalls war es sicher mehr als ein „Flüchtigkeitsfehler“, wie er 1966 leichthin bemerkte.
Den Zettel steckte der General in seine Brieftasche, um im Falle eines Falles auf eine Vorlage für die dann notwendige Pressemitteilung zurückgreifen zu können. Dann hieß es warten – in Eisenhowers eigenen Worten: „Wieder musste ich die unendliche Zeit ertragen, die immer zwischen der endgültigen Entscheidung des Oberkommandos und der frühestmöglichen Feststellung von Erfolg oder Misserfolg bei solchen Unternehmungen liegt.“
In seinen 1948 erstmals erschienenen Erinnerungen an den Weltkrieg (unter dem Titel „Crusade in Europe“) ging er nicht darauf ein, was er getan hätte, wenn die Landung tatsächlich gescheitert wäre. Von seinem Posten zurückgetreten wäre er gewiss, aber auch mehr?
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Quelle: N24 Doku
Als seine Memoiren erschienen, war die Notiz vom 5. Juni 1944 bereits (mit Eisenhowers Genehmigung) an die Öffentlichkeit gelangt. Sein Adjutant Harry C. Butcher, ein Radiojournalist und Mitglied der US Navy Reserve, berichtete in seinem 1946 erschienenen Buch „My three years with Eisenhower“, wie es dazu kam.
„Heute Nachmittag rief mich ,Ike’ in sein Büro und zeigte mir ein Blatt Papier, auf das er eine Nachricht gekritzelt hatte“, lautete der Eintrag in Butchers Tagebuch zum 11. Juli 1944: „Er habe die Notiz in seiner Brieftasche gefunden.“ Der Adjutant las und bat seinen Vorgesetzten danach, das Blatt behalten zu dürfen: „Widerwillig stimmte er zu und ergänzte, er habe für jede Landungsoperation einen ähnlichen Zettel geschrieben, aber jeden davon nach dem Erfolg zerrissen.“
Das hätte Eisenhower natürlich auch mit dieser Notiz tun können. Die Tatsache, dass er stattdessen seinen öffentlichkeitsbewussten Adjutanten einweihte, spricht dafür, dass der General zumindest unterbewusst das dramatische Potenzial erkannte, das in dem Gegensatz seines vieltausendfach gedruckten Tagesbefehls vom 5. Juni und der handschriftlichen Notiz bestand.
Am 6. Juni 1944 starben unter dem Kommando von Dwight D. Eisenhower nach offiziellen Angaben 4414 alliierte Soldaten, davon 2499 Amerikaner sowie 1915 Briten, Kanadier und Franzosen. Auf deutscher Seite lassen sich entsprechende Zahlen nicht annähernd so genau ermitteln – sie werden auf zwischen 4000 und 9000 an diesem einen Tag geschätzt.