Das Urteil, das Johann Wolfgang von Goethe im März 1832 fällte, erhielt durch seinen Tod wenige Tage später noch eine besondere Wucht: „Mitwelt und Nachwelt werden nicht hinreichen, solches Wunder der Kunst würdig zu commentieren.“ Und so kam es auch: Das sogenannte Alexandermosaik, das am 24. Oktober 1831 in der palastartigen Casa del Fauno in den Ruinen Pompejis entdeckt worden war, ist nicht nur in vielen Schulbüchern zu finden, sondern provoziert bis heute die Interpreten.
Das beginnt schon beim Thema und endet bei der Form. Dargestellt ist der Angriff Alexanders des Großen und seiner Leibwächter auf den persischen Großkönig Dareios III. Während die Makedonen auf ihren Pferden voranstürmen und dabei zahlreiche Kämpfer des Gegners niederhauen, hat dieser bereits seinen Kampfwagen zur Flucht gewendet. Ein Diener hält ein Pferd bereit, um gegebenenfalls ein schnelleres Fortkommen zu ermöglichen. Es ist der dramatische Moment, in dem Alexanders triumphaler Sieg evident wird.
Beizeiten wurde erkannt, dass dem 5,82 x 3,13 Meter großen und aus etwa 1,5 Millionen farbigen Steinchen geschaffenen Monumentalbild, das in der römischen Villa wohl als Wandschmuck diente und heute im Archäologischen Nationalmuseum in Neapel bestaunt werden kann, ein älteres Gemälde als Vorbild zugrunde lag. Das macht das Alexandermosaik zu einem raren Beispiel für diese Kunstform in der Antike. Zudem ist es das einzige Zeugnis für ein Genre, das nur aus der Literatur bekannt ist: die Schlachtfeldmalerei.
Angesichts solcher Superlative ist es kein Wunder, dass die Versuche, Goethes Urteil zu widerlegen, ganze Bibliotheken füllen. Einer der Kommentatoren ist Bernhard Andreae, als Professor in Bochum und Marburg, als Direktor des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom und Mitglied diverser Akademien und des Ordens Pour le Mérite sicherlich einer der profiliertesten Archäologen in Deutschland. Wiederholt hat er Deutungen des Alexandermosaiks vorgelegt, sich dabei auch korrigiert.
In der Zeitschrift „Antike Welt“ nimmt er jetzt den Faden auf, den er 2004 bereits einmal ausgerollt hatte, und spitzt ihn noch einmal zu: Alexander sei ein „Sieger in Not“. Denn er werde auf dem Bild nicht als Triumphator dargestellt, sondern „in einer verzweifelten Lage und nur durch das kühne Eingreifen eines Fußkämpfers gerettet“.
Die zahlreichen Lücken, die das riesige Werk vor allem in seinem linken Teil aufweist – zwölf Jahre hat es seinerzeit gedauert, das Mosaik zu lösen und nach Neapel zu schaffen – , machen es dem Betrachter nicht leicht. Klar auszumachen ist der makedonische König auf seinem berühmten Streitross Bukephalos. Im Kampf wurde ihm bereits der Helm abgeschlagen. In seiner Hand hält er die gefürchtete makedonische Lanze, die Sarisse, die bis zu fünf Meter lang war und auch von der Infanterie geführt wurde.
Den Stoß auf den Großkönig kann einer von dessen Gardisten mit dem Körper aufgefangen. „Alexanders Stoßlanze durchbohrt seinen Leib und dringt an seiner Lende wieder heraus“, schreibt Andreae: „Unter seinem Gewicht muss die hölzerne Stange Alexanders in mehrere Stücke zerbrechen. Der König verliert seine Waffe und ist in schwerster Gefahr. Da kommt ihm der General seiner Fußtruppe zu Hilfe.“
Damit zielt der Archäologe auf ein Detail über der rechten Hand Alexanders. Ganz eng neben dem König erkennt man einen einzelnen Fußsoldaten zwischen den berittenen Leibwächtern Alexanders. Man sieht nur Nase, Mund und linkes Auge, der Rest ist zerstört. Aber indem sich dieser Soldat mit seiner Lanze gegen einen persischen Angreifer wendet, der das Schwert gegen Alexander erhoben hat, wird er als dessen Retter vorgeführt.
Das Bruchstück gehört zu den zahlreichen Rätseln, die das Alexandermosaik bereithält. Es beginnt mit der Frage, welche Schlacht denn überhaupt dargestellt wird. Zweimal standen sich Alexander und Dareios im Kampf gegenüber, 333 v. Chr. bei Issos und 331 bei Gaugamela. Beide Male wandte der Makedone dieselbe Taktik an: Mit verschiedenen Manövern zwang er das zahlenmäßig drückend überlegene Perser-Heer, seine Ordnung aufzugeben. Dann stieß er mit seiner Reitergarde direkt auf die Position des Großkönigs vor, der hinter seinem Zentrum Aufstellung genommen hatte. Beide Male gelang ihm der Durchbruch, der Dareios zur Flucht zwang.
Plädieren einige Wissenschaftler für Issos, plädieren andere für Gaugamela. Wieder andere halten das Bild schlicht für eine idealisierte Darstellung des Kampfes Alexanders mit Dareios. Andreae votiert für Gaugamela und findet das Vorbild für die Szene in der Darstellung, die Kallisthenes, ein Neffe des Philosophen Aristoteles, formuliert hat, der als Hofhistoriograf den Eroberungszug begleitete:
„Alexander suchte die besiegten Feinde auf die Mitte zu werfen, da dort Dareios seinen Platz hatte ... Alexander ward ihnen, je näher er kam, desto furchtbarer, und da er die Fliehenden auf die noch Standhaltenden warf, wurden auch diese von der Panik erfasst und mitgerissen. Die Edelsten und Tapfersten ließen sich jedoch für ihren König niederhauen, stürzten übereinander, und sterbend klammerten sie sich an die Feinde und ihre Pferde, um die Verfolgung aufzuhalten.“
Was in diesem Reiterkampf ein einzelner Fußsoldat zu suchen hat, ist eine weitere Frage. Gegen einen abgeworfenen Kavalleristen spricht der Einsatz der Lanze. Ein Reiter zu Fuß hätte sich kaum einer derart unhandlichen Waffe bedient, argumentiert Andreae, wohl aber ein Mitglied der Phalanx, der mittelschweren makedonischen Infanterie, die es gewohnt war, mit der Sarisse tief gestaffelt vorzugehen. Ein Soldat dieser Truppe aber kann schwerlich der Attacke der Reiter gefolgt sein, die zuvor in scharfem Galopp ein weit ausholendes Manöver unternommen hatten. Keine schriftliche Darstellung der Schlacht weiß von dem einsamen Helden.
Wissenschaftler, die ihr Augenmerk auf dieses Detail des Alexandermosaiks gelegt haben, kommen daher zu dem Schluss, dass das Porträt des eng beim König kämpfenden Fußsoldaten auf den Auftraggeber des Bildes zurückgeht. Er wollte sich in möglichst prominenter Form in die entscheidende Szene der Schlacht einschreiben und damit seinem Ansehen ein Denkmal setzen.
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Bei der Größe des Bildes dürfte es sich um einen wohlhabenden und mächtigen Mann gehandelt haben. Man hat dabei an Ptolemaios gedacht, einer von Alexanders Diadochen (Nachfolgern), der in den Kriegen nach dessen Tod in Ägypten eine Dynastie etablierte, deren letzte Herrscherin Kleopatra wurde. Dagegen hat Andreae bereits 2004 auf den Tenor des Mosaiks verwiesen, das nicht nur dem Triumph der Makedonen, sondern auch dem ausführlich dargestellten Opfermut der Perser breiten Raum einräumt: Der Auftraggeber muss ein Interesse daran gehabt haben, dass die Gesamtdarstellung (und damit seine Leistung) „nicht nur auf makedonische, sondern auch auf persischstämmige Betrachter“ Eindruck machte.
Das kann um die Wende vom 4. zum 3. Jahrhundert v. Chr., in die die Vorlage für das ursprüngliche Gemälde von vielen Interpreten datiert wird, nur Seleukos I. Nikator gewesen sein, der Diadoche, der mit Syrien, Mesopotamien und dem Iran den Großteil von Alexanders Eroberungen in Asien gewonnen hatte. Das war 301, als er zusammen mit Lysimachos den mächtigen Antigonos schlug. Anschließend dürfte das Gemälde entstanden sein, argumentiert Andreae. Denn da hatte Seleukos jegliches Interesse, gegenüber seinen makedonisch-griechischen und persisch-orientalischen Untertanen gleichermaßen seine Nähe zu Alexander herauszustreichen und damit seine Herrschaft zu legitimieren.
Eine steile Karriere war Seleukos wahrlich nicht vorbestimmt worden. Anders als die engen Freunde Alexanders, die als Leibwächter und Inhaber hoher Kommandos den Zug nach Asien mitmachten, begann ihn Seleukos als etwa 21-Jähriger in der weniger prestigeträchtige Infanterie. „Stratiotes“, Fußsoldat, nennt ihn der Historiker Appian. Wenn Andreae ihn bei Gaugamela als General der Pezhetairen, also der Phalangisten, vorstellt, wendet er sich gegen die Aussage der Quellen. Der Römer Arrian, der die Aufstellung des Heeres bei Gaugamela sehr präzise wiedergibt, kennt Seleukos auf keinem Kommandoposten wie überhaupt sein Name in den Quellen erst auf dem indischen Kriegsschauplatz aufscheint. Da allerdings ist Seleukos Kommandeur der Hypaspisten, einer Elitetruppe der Infanterie.
Offenbar hatte sich Seleukos in dieser Waffengattung hochgedient. Noch in den Streitigkeiten nach Alexanders Tod tritt er als Wortführer des Fußvolkes auf. Und beweist schnell sein politisches Geschick. Zunächst verbündet er sich mit dem Reichsregenten Perdikkas, wechselt dann die Seiten und gehört zu dessen Mördern. Als Lohn erhält Seleukos Babylonien. Dazu passt, dass er sich als einziger der Diadochen nicht von seiner persischstämmigen Frau trennt, die er – wie alle Gefährten des Königs – auf der Massenhochzeit von Susa hatte heiraten müssen. Trotz weiterer politisch bedingter Ehen wurde der Sohn dieser Apame sein Nachfolger.
Andreae geht so weit, auch die Bronzebüste des Seleukos aus Neapel sowie Porträts auf Münzen mit dem Mosaik-Fragment zu vergleichen. Denn anders als die übrigen Mitkämpfer Alexanders wurde dieses dort im Profil und mit markanten Details dargestellt. „Mit dem leichten Höcker auf der Nase, den herabgezogenen Mundwinkeln und dem kräftigen Kinn“ gleiche das Mosaik „unverkennbar“ den anderen Offizial-Darstellungen des Seleukos, schreibt der Archäologe.
Durch die Festlegung auf ihn findet Andreae auch einen Hinweis auf den Künstler, der das ursprüngliche Gemälde geschaffen hat. Die Liste der Vorgeschlagenen reicht von Philoxenos von Eretria über Aristeides von Theben bis zu der Malerin Helena aus Alexandria. Andreae schlägt nun den Bildhauer und Maler Eutychides von Sikyon vor. Der war bei der Ausgestaltung von Antiocheia am Orontes (heute Antakya in der Türkei), das Seleukos nach seinem Sieg über Antigonos zu seiner Hauptstadt machte, mit symbolträchtigen Aufträgen bedacht worden.
Ob die Wissenschaft dieser „Commentierung“ (nach Goethe) folgen wird, bleibt abzuwarten. Weniger umstritten als seine Deutung dürfte indes der Grund für die Schaffung des Mosaiks sein. Ein reicher Römer, der sich die mondäne Casa del Fauno leisten konnte, ließ es wohl in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. in einem seiner Repräsentationsräume anbringen, um Gäste zu beeindrucken: mit der Größe Roms, das dabei war, die Reiche Alexanders und seiner Nachfolger zu beerben.