Zwischenruf in der Sommerpause

Mehr Gemeinsinn! Darum sollten deutsche Politiker in Nagelsmanns Bootcamp

EM, nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft, Pressekonferenz DFB, Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft mit den Tränen während der Pressekonferenz.

EM, nach dem Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft, Pressekonferenz DFB, Bundestrainer Julian Nagelsmann kämpft mit den Tränen während der Pressekonferenz.

Der vergangene Freitag hatte es in sich.

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Am Morgen verkündete die Bundesregierung pünktlich zur parlamentarischen Sommerpause ihre Einigung nach einem monatelangen, zermürbenden Streit um den Haushalt 2025. Sie hätte daran zerbrechen können.

Am Abend schied die deutsche Fußball-Nationalmannschaft der Männer nach einem furiosen und glorreichen Match im Viertelfinale gegen den Titelfavoriten Spanien aus dem Europa-Turnier 2024. Sie wird wahrscheinlich an dieser Niederlage wachsen.

Die beiden Ereignisse haben Bedeutung.

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Die Bundesregierung hat mit ihrer Übereinkunft dafür gesorgt, dass der Laden im nächsten Jahr weiterlaufen kann – allen Meinungsverschiedenheiten der drei Ampelpartner zum Trotz. Man kann dies – angesichts der nervenden Dauerstreitigkeiten – durchaus als Erfolg betrachten.

Das Ausscheiden der deutschen Mannschaft bei der Euro 2024 ist schmerzhaft, weil das Team durch seine Spielfreude, seine Auftritte abseits des Rasens und nicht zuletzt seines mutigen Trainers Millionen Deutsche (und beileibe nicht nur Fußballfans) hinter sich vereinen konnte. Auch das letzte Turnierspiel offenbarte, wie viel Potenzial in einer Mannschaft steckt, die an ihren Zusammenhalt und ihren Weg glaubt.

Nagelsmann schaut über den Tellerrand

Der Umgang der Akteure mit Erfolg und Niederlage konnte jedoch in beiden Fällen unterschiedlicher nicht sein.

Im politischen Berlin beispielsweise lobte sich die FDP dafür, dass im kommenden Haushalt der Einsatz des Bürgergelds verschärft und die Schuldenbremse eingehalten werde. Daraufhin schimpfte SPD-Fraktionschef Mützenich auf das „Triumphgeheul“ der Liberalen, nahm aber seinerseits die Erhöhung des Kindergelds als Erfolg seiner Partei in Anspruch. Doch wen, bitteschön, interessiert das denn?

Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig.

Julian Nagelsmann,

Bundestrainer

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Im Stadion in Stuttgart und später im DFB-Quartier schlossen sich Fans, Spieler, Trainer und Betreuer im Moment der Niederlage dagegen zu einem symbolischen Kreis zusammen. Einer für alle, alle für einen. Man ist sich sicher: Dieses Team steht wieder auf und wird stärker auf den Rasen zurückkehren.

Nagelsmann hatte nur Stunden nach der Enttäuschung schon die Kraft, über den Tellerrand des Fußballs hinauszuschauen. „Ich glaube, wir können alle anpacken, dass es nicht so traurig ist, wie es gerade wirkt und nicht alles schwarzgemalt werden muss, wie es gerade schwarzgemalt wird“, sagte er. „Man kann immer Probleme sehen – und wir haben Probleme im Land. Man kann aber auch immer von Lösungen sprechen.“

Die Haudraufs in den Parteizentralen sollten sich ein Beispiel an dem Sportsgeist nehmen, der seit der Übernahme des Bundestrainer-Amts durch den 36-Jährigen eben nicht allein Wettstreit bedeutet, sondern auch Demut, Fleiß, Freude, Gemeinschaft, Empathie und Mut zu unkonventionellen Entscheidungen. Es sind genau diese Eigenschaften, die die Deutschen wahrscheinlich an ihren Politikern vermissen.

DFB-Sprecherin Franziska Wülle mit Bundestrainer Julian Nagelsmann, DFB-Präsident Bernd Neuendorf und Sportdirektor Rudi Völler bei der Abschlusspressekonferenz in Herzogenaurach am 6. Juli 2024

DFB-Sprecherin Franziska Wülle mit Bundestrainer Julian Nagelsmann, DFB-Präsident Bernd Neuendorf und Sportdirektor Rudi Völler bei der Abschlusspressekonferenz in Herzogenaurach am 6. Juli 2024

Oder, um es mit Nagelsmann auf den Punkt zu bringen: „Wenn ich dem Nachbarn helfe, die Hecke zu schneiden, ist er schneller fertig.“ Anpacken, gemeinsam. Mit Freude. Das solle das Motto für alle sein.

Ist Deutschland, sind wir Deutschen nach Pandemie, Energiekrise, während des Ukraine-Kriegs und der fortlaufenden Herausforderungen durch die Klimaerwärmung in der Lage, uns wieder unterzuhaken, den Kopf zu heben und gemeinsam für eine gemeinsame Zukunft zu arbeiten? Oder bleiben weiterhin viele sich selbst die Nächsten – so, wie es die Parteien von Regierung und Opposition vormachen?

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In den Umfragen liegen SPD, Grüne und Liberale mindestens derartig am Boden, wie es die deutsche Männer-Nationalelf noch vor einem halben Jahr tat. Auch die Union als größte Opposition ist schwach. Das Vertrauen in die demokratischen Parteien, Institutionen und Parlamente ist am Boden wie noch nie. Vielleicht wären deutsche Politiker gut beraten, während der Sommerpause ins Bootcamp von Julian Nagelsmann zu ziehen.

Plädoyer für mehr Miteinander

Die Bundesregierung könnte hier beispielsweise lernen, wie sie Differenzen in der Kabine klärt und als Gemeinschaft auftritt, die – anstatt Abseitsstellungen von Einzelspielern zu produzieren – im Team Tore erzielt. Dafür reicht es nicht, von sich selbst überzeugt zu sein, wie etwa Bundeskanzler Olaf Scholz. Man sollte auch durch Leistung überzeugen, um den Spirit zu erzeugen, der die Nagelsmann-Elf durch dieses Turnier getragen hat.

Das Plädoyer des Bundestrainers für mehr Miteinander richtete sich jedoch nicht explizit an die Politik, auch nicht nur an die Fußballfans auf den Rängen und vor den TV-Geräten, sondern an die deutsche Gesellschaft insgesamt. Man müsse hierzulande wieder einen Tick mehr gemeinsam machen, findet Nagelsmann. Die Verantwortung dafür, „dass wir begreifen, dass wir als gemeinschaftliche Gesellschaft auch viel mehr bewegen können, als wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht und jeder individueller sein will als sein Nachbar“, trage eben jeder selbst.

Tatsächlich gibt es aber in Deutschland unzählige Beispiele dafür, dass Gemeinsinn Berge versetzen und Freude spenden kann. Das passiert täglich in Sport-, Kultur- oder Bürgervereinen, in Kitas oder Schulen, die prekären finanziellen Verhältnissen trotzen, oder in Gemeinderäten, die das Miteinander ihrer Bürger durch Aktionen und Feste stärken. Was hier oft fehlt, ist: Anerkennung und Wertschätzung.

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Das Licht ist also durchaus vorhanden. Der Eindruck von Tristesse und Schwarzmalerei, wie ihn Nagelsmann zu Recht beklagt, geht eher von oben nach unten aus.

Daran können die Spitzen des Staats gern in diesem Sommer arbeiten. Und wenn sie an seine Tür klopfen, wird Julian Nagelsmann sicherlich freudestrahlend öffnen.

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