„Ausnahmesituationen, die nachwirken können“

Verkehrsunfall mit Kindern: So können Eltern und Einsatzkräfte psychische Erste Hilfe leisten

Etwa alle 20 Minuten verletzt sich in Deutschland ein Kind bei einem Verkehrsunfall oder stirbt.

Etwa alle 20 Minuten verletzt sich in Deutschland ein Kind bei einem Verkehrsunfall oder stirbt.

Alle 20 Minuten verletzt sich in Deutschland im Schnitt ein Kind bei einem Verkehrsunfall oder wird tödlich verletzt. Jeder Unfall ist für Kinder ein schockierendes, wenn nicht sogar traumatisierendes Ereignis. Doch genauso angsteinflößend sind die Unfälle für Kinder, wenn sie nicht direkt am Geschehen beteiligt sind, sondern sie „nur“ mit ansehen müssen.

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Zuletzt wurde etwa ein elfjähriges Mädchen in Escher im niedersächsischen Landkreis Schaumburg bei einem Schulbusunfall tödlich verletzt. Sie war mit anderen Kindern aus dem Schulbus gestiegen und hatte die Fahrbahn, ohne auf den Verkehr zu achten, überquert. Dabei wurde sie von einer Autofahrerin erfasst, die anderen Kinder wurden Zeugen des Geschehens. Ein Rettungshubschrauber brachte die Elfjährige ins Krankenhaus, wo sie ihren schweren Verletzungen erlag.

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Solche Unfälle passieren immer wieder. „Das sind aufregende, psychische Ausnahmesituationen, die Kindern Angst machen und die tatsächlich auch nachwirken können“, weiß Harald Karutz, Professor für Psychosoziales Krisenmanagement an der MSH Medical School Hamburg. Sein Schwerpunkt ist die psychosoziale Notfallversorgung, speziell von Kindern und Jugendlichen. Etwa ein Drittel der Kinder, die an einem Unfallgeschehen beteiligt sind, würden längerfristig mit dem Erlebten zu tun haben, sagt er. Doch wie kann man diesen Kindern am besten helfen?

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Kinder können posttraumatische Belastungsstörung entwickeln

Zunächst einmal sei es wichtig, die emotionalen Folgen des Erlebten nicht zu unterschätzen – oder gar mit Floskeln wie „Stell dich nicht so an!“ abzutun. „Die psychischen Auswirkungen sind gut erforscht“, sagt Karutz. In der Psychotraumatologie unterscheidet man zwei verschiedene Arten von Reaktionen:

  • Akute Belastungsreaktionen: Die Kinder reagieren mit Angst, sind anhänglich, unkonzentriert oder möchten vielleicht gar nicht mehr an der Straße entlanggehen, wo der Unfall passiert ist. „Das ist das Normalste der Welt und nicht ungewöhnlich“, stellt der Experte klar. Nach wenigen Tagen oder Wochen verschwinden diese Reaktionen meist wieder.
  • Posttraumatische Belastungsstörungen: Es kann jedoch passieren, dass einzelne Symptome bleiben oder sich sogar verstärken. Halten sie länger als vier bis sechs Wochen an, liegt unter Umständen eine posttraumatische Belastungsstörung vor. Diese ist gekennzeichnet durch anhaltende Unruhe oder Überregung (die Kinder sind unkonzentriert und immer unter Strom); anhaltende, sich aufdrängende Erinnerungen an das Erlebte (die Kinder haben immer wieder Bilder von dem Unfall vor Augen, vielleicht sogar Gerüche); Vermeidungsverhalten (der Ort des Unfalls wird gemieden); und anhaltende, negative Gedanken (zum Beispiel darum, wie es dem oder der Verunglückten geht).

„Wenn die Symptome länger als vier bis sechs Wochen bestehen bleiben, würde ich empfehlen, fachliche Hilfe in Anspruch zu nehmen“, sagt Karutz. „Und dafür muss sich auch niemand schämen.“ Anlaufstellen können zum Beispiel Erziehungsberatungsstellen, niedergelassene Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten sowie Traumaambulanzen sein. Auch kurz nach einem Unfall kann es schon angebracht sein, sich fachlich beraten zu lassen. Das sollte immer dann geschehen, wenn sehr starke, belastende Reaktionen auftreten oder zum Beispiel auch die Eltern einfach verunsichert sind.

Wie Einsatzkräfte mit verängstigten Kindern umgehen sollten

Kinder reagieren grundsätzlich stärker auf einschneidende Ereignisse wie Unfälle. Das liege daran, dass sie noch nicht so viel über sie gelernt haben, noch nicht so viele gesehen haben, sagt Krisenforscher Karutz. „Häufig fehlen ihnen die geeigneten Bewältigungsstrategien.“

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Deshalb sollten Einsatzkräfte besonders sensibel mit Kindern umgehen, die in einen Unfall verwickelt sind oder ihn mit ansehen mussten. „Wichtig ist, dass sie den Kindern Informationen vermitteln, ihnen ermöglichen, zu verstehen, was da passiert ist“, rät der Experte. Gleichzeitig sollten die Helferinnen und Helfer ein Sicherheitsgefühl vermitteln, zum Beispiel indem sie Bezugspersonen der Kinder mit in die Versorgung einbeziehen. Das können die Eltern, eine Lehrerin oder ein Freund sein – jemand, der den Kindern das Gefühl gibt, in der Situation nicht allein zu sein.

Die Kinder abzulenken, zum Beispiel indem man ihnen vorliest oder Witze erzählt, sollten Einsatzkräfte lieber vermeiden. Denn es kann sein, dass die Kinder die Ablenkung missverstehen, sich vielleicht sogar nicht ernst genommen fühlen. „Am besten ist es, wenn ein Kind sich selbst ablenkt“, erklärt Karutz. „Wenn man den Kindern eine kleine Beschäftigung, einen kleinen Auftrag geben kann. ‚Halt dich da mal fest!‘ Oder: ‚Krabbele mal auf die Trage!‘“ Ist ein Kind zu stark verängstigt, wird auch das jedoch nichts bringen, um die Angst zu nehmen. „Ablenkung ist kein Allheilmittel.“

Eltern sollten „traumasensibel“ sein

Ablenkung allein ist auch für Eltern keine gute Strategie. Sie sollten stattdessen nachfragen, wie es ihrem Kind geht, und anbieten, in Ruhe über das Erlebte zu sprechen. „Ein offener Umgang ist ganz wichtig, es sollte nicht tabuisiert werden“, rät Krisenforscher Karutz. Denn Eltern seien für die Bewältigung des Erlebten „extrem wichtig“. Sie sollten „traumasensibel“ sein – also Verständnis dafür haben, wenn das Kind nach dem Unfall verängstigt ist, weint, vielleicht sogar zunächst einmal wieder im Bett von Mama und Papa schlafen will.

Viel Nähe und Geborgenheit können dem Kind dabei helfen, mit dem Erlebten besser umzugehen. Doch das geht nur, wenn die Eltern selbst emotional stabil sind. Schließlich kann es sein, dass der Unfall auch an ihnen nicht spurlos vorbeigegangen ist, er auch sie vielleicht immer noch belastet. „Das heißt, es ist wichtig zu schauen, wie es den Eltern geht“, betont Karutz. Wenn diese Schwierigkeiten haben, das Erlebte zu verarbeiten, und Symptome wochenlang bestehen bleiben, kann es für sie ebenfalls sinnvoll sein, sich fachliche Hilfe zu holen.

Resilienz fördern

Damit Unfälle Kinder gar nicht erst so stark belasten, können Eltern schon im Vorfeld einiges tun. Sie können die Resilienz ihrer Kinder fördern, indem sie zum Beispiel über Unfälle sprechen, ihnen erklären, was passieren kann, wie Einsatzkräfte Hilfe leisten und so weiter. „Je mehr Kinder gelernt haben und je besser das Rüstzeug ist, das sie mitbekommen, desto besser sind sie im Fall der Fälle geschützt“, sagt der Experte. Dazu kann es ebenfalls gut sein, wenn sie an einem Erste-Hilfe-Kurs für Kinder teilnehmen – freiwillig, wohlgemerkt. Dort wird ihnen das Thema altersgerecht nähergebracht.

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Doch was, wenn dann doch der schlimmste Fall eintritt? Wenn bei einem Unfall jemand stirbt. Vielleicht sogar eine Person, die die Kinder kannten. Wie sollten Eltern die Todesnachricht am besten übermitteln?

In diesem Fall sollte man sich fachliche Hilfe suchen, rät Karutz. Etwa bei Notfallseelsorgerinnen und Notfallseelsorgern oder bei Kriseninterventionsteams. Wichtig ist auch hier, mit den Kindern offen und ehrlich zu kommunizieren: „Man sollte dem Kind sehr klar und verständlich erklären, was passiert ist. Und nichts verschleiern, indem man über einen Verstorbenen zum Beispiel sagt: ‚Er ist auf Weltreise gegangen‘ oder ‚Er ist eingeschlafen‘. Das könnte zu Missverständnissen führen. Sondern man sollte bewusst sagen: ‚Der- oder diejenige ist tot.‘“ Je nach Alter der Kinder müsse man vielleicht sogar erklären, was es bedeutet, tot zu sein.

Auch durch die Trauer sollten Eltern ihre Kinder achtsam begleiten. „Jedes Kind geht anders mit Trauer um“, sagt der Krisenforscher. Er rät, den Kindern zum Beispiel freizustellen, ob sie an einer Beerdigung teilnehmen wollen. Auch zur Begleitung trauernder Kinder können Eltern sich jederzeit fachlichen Rat einholen. „Ich würde Eltern ermutigen, da einfach auf ihr Bauchgefühl zu hören.“

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