Keine Materialien, keine Klassenfahrten

„Hast du was gegessen?“: Wie Kinderarmut den Alltag an vielen Schulen erschwert

Gerade im reichen Deutschland ist Kinderarmut ein großes Problem.

Gerade im reichen Deutschland ist Kinderarmut ein großes Problem.

Wenn Schüler über Bauchschmerzen klagen, stellt Sven Hartmann* immer die gleiche Frage zuerst: „Hast du was gegessen?“ Zu oft ist auch die Antwort die gleiche: „Nein.“ Die schnelle Lösung hierfür findet sich in der Cafeteria. Dort gibt es immer ein paar Brötchen extra für die, die sich das Essen sonst nicht leisten können. Das hilft für den Moment. Doch alles, was das Problem nachhaltig lösen könnte, liegt nicht in den Händen des Dortmunder Hauptschullehrers.

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Gerade im reichen Deutschland ist Kinderarmut ein großes Problem: Knapp einem Viertel der Kinder und Jugendlichen hierzulande droht Armut und soziale Ausgrenzung. Damit liegt die Bundesrepublik im europaweiten Vergleich im letzten Drittel, steht also besonders schlecht dar. Und in kaum einem Land ist der Bildungserfolg eines Kindes so stark von den finanziellen Ressourcen des Elternhauses abhängig wie in der Bundesrepublik.

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Und das, obwohl Bildung in Deutschland doch kostenlos ist. Tatsächlich aber sieht die Lebensrealität von Schülerinnen und Schülern anders aus. „Geld spielt eine große Rolle in der Schule“, sagt Tanja Betz, Professorin für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Materialien, Klassenfahrten, Nachhilfe – für all das braucht es finanzielle Mittel. Weniger Geld bedeutet mehr Sorgen, mehr Stress. Keine guten Voraussetzungen fürs Lernen. Für den Bildungserfolg sei der soziale Faktor sogar noch entscheidender als der Faktor Migration, sagt Betz.

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Probleme verschärfen sich

Und die Probleme scheinen sich weiter zu verschärfen: Laut Schulbarometer der Robert Bosch Stiftung machen sich immer mehr Kinder und Jugendliche Sorgen um die finanzielle Situation ihrer Familie. So habe die repräsentative Befragung von Lehrkräften gezeigt, dass Kinderarmut im Vergleich zum Schuljahr 2021/22 in allen Bevölkerungsschichten sichtbar zugenommen habe.

Neben den finanziellen Sorgen gab jede dritte Lehrkraft außerdem an, dass Kinder vermehrt ohne Frühstück und passende Materialien in die Schule kämen. Besonders drängend sind die Probleme an Schulen in benachteiligten Bezirken.

400 Euro für die Klassenfahrt

Sven Hartmanns Schule liegt im Dortmunder Stadtgebiet mit der höchsten Arbeitslosenquote. Hier beziehen die allermeisten Familien Leistungen vom Staat. Bildung bedeutet auch soziale Teilhabe, weshalb der Staat eigentlich bedürftige Kinder und Jugendliche finanziell unterstützt. Über Gelder wie das Paket „Bildung und Teilhabe“ können zum Beispiel Ausflüge und Klassenfahrten ermöglicht werden – sofern sie denn beantragt werden.

Die Bürokratie sei Irrsinn, sagt der Hauptschullehrer, und für die Betroffenen oft gar nicht zu bewältigen. Darum erledigt die Schule den Papierkram und treibt zusätzlich über Sponsoren Gelder ein. „Richtig arm dran sind allerdings die, die knapp über dem Satz für Bildung und Teilhabe liegen und damit keine Unterstützung bekommen“, sagt Hartmann. Nicht selten sprengten die 400 Euro für die Klassenfahrt das gesamte Monatsbudget einer Familie.

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Armut führt zu Ausgrenzung

Was das bedeutet, hat sich tief in Celsy Dehnerts Erinnerungen gebrannt. „Ich war das Kind, dass montags mit dem Tornister in der Schule stand, als alle anderen in den Bus gestiegen sind“, erzählt Dehnert. Aus Scham hatten ihre Eltern ihr nicht erzählt, dass die Klassenfahrt ansteht und sie diese nicht bezahlen konnten. Ihre Tochter ging nichtsahnend in die Schule. Statt mit ihren Klassenkameraden in den Bus zu steigen, musste sie den Unterricht in der Parallelklasse besuchen.

Von Armut betroffen zu sein bedeute Ausgrenzung, sagt Dehnert. Besonders deutlich bekam sie das auch am Gymnasium zu spüren: Während ihre Mitschüler in der Oberstufe gleich ihre Namen unter den Aushang zur Skifreizeit setzten, hatte Dehnert gar nicht erst in Erwägung gezogen, mitfahren zu können. 1200 Euro – für eine 17-Jährige, die inzwischen alleine lebte, einfach unmöglich.

Unsere Schüler haben häufiger kein Elternhaus, das sich gut um sie kümmert. Manche werden auch geschlagen.

Marlene Winter

Berufsschullehrerin

192 Euro zum Schuljahresbeginn

Heute beschäftigt sich Dehnert als Journalistin mit dem Thema Armut. Sie lebt mit ihrem Mann und den beiden Kindern in Niedersachsen. Seit diesem Sommer geht ihr ältestes Kind in die Schule. Vieles ist immer noch so, wie Dehnert es aus der Schule ihrer eigenen Kindheit kennt: umfangreiche Materiallisten, alles zum Schulbeginn zu besorgen; Markenstifte bitte; Tuschkasten von bester Qualität; Wachsmalstifte, selbst wenn sie kein einziges Mal benutzt werden; Hallenschuhe mit heller Sohle, Hausschuhe … 192 Euro hat Dehnert zu Schuljahresbeginn in Material investiert. Geld, das jenen wehtut, die davon wenig haben.

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Ebenso weh kann es tun, wenn diese Materialien fehlen. Denn Ärger und Druck spüren vor allem die, die am wenigsten dafür können: die Kinder. „Ich war auch das Kind, dass statt der Hefte eine lose Blattsammlung aus Recyclingpapier besaß“, sagt Dehnert. Weil die Collegeblöcke im Großgebinde eben günstiger waren als die Hefte im Schreibwarenhandel. So wird Armut für alle sichtbar. Vor allem dann, wenn die Lehrerin vor allen Mitschülern fragt, warum immer noch die richtigen Hefte fehlen.

Fortbildung für Lehrkräfte nötig

Um Kindern und Jugendlichen diese Scham zu ersparen, müssten Lehrkräfte aufmerksam werden für die Widrigkeiten, die der Lebensalltag ihrer Schüler und Schülerinnen mit sich bringt. Doch wirklich geschult sind Lehrkräfte diesbezüglich nicht. Obwohl Kinderarmut ein massives und flächendeckendes Problem in Deutschland ist, gebe es kaum entsprechende Fortbildungsangebote für Lehrkräfte, kritisiert Professorin Betz.

Nicht einmal im Studium würden angehende Lehrkräfte für die Themen Armut und soziale Herkunft sensibilisiert. Für die Forscherin ein Zeichen dafür, dass Kinderarmut politisch keine große Bedeutung habe.

Eine Tüte mit Lebensmitteln

An manchen Schulen ist das Thema so allgegenwärtig, dass sich Lehrkräfte und Schulleitungen allen strukturellen Problemen zum Trotz selbst auf den Weg machen, um ihren Schülerinnen und Schülern zu helfen. Sie gründen Fördervereine, helfen wie bei bürokratischen Hürden oder organisieren über Whatsapp-Gruppen Hilfen auf dem kurzen Dienstweg.

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Wut, Ängste, Depressionen: Was Armut mit Menschen macht

Wenn über Armut in Deutschland gesprochen wird, geht es meist um die unmittelbaren Auswirkungen von ihr. Wer aber, wie unser Autor, die meiste Zeit seines Lebens in prekären Verhältnissen gelebt hat, leidet oft ein ganzes Leben unter den Folgen.

Manchmal bringe sie Tüten mit Lebensmitteln in die Schule, erzählt Marlene Winter*, Berufsschullehrerin im Ruhrgebiet. Einem Schüler habe sie auch schon angeboten, die Kosten für den Farbkasten zu übernehmen. Der aber habe abgelehnt. Der Stolz sei zu groß. Einige Schülerinnen und Schüler von Winter sind minderjährig, die allermeisten junge Erwachsene. Damit zählen sie laut Studie der Bertelsmann Stiftung zur Gruppe der am stärksten Armutsgefährdeten in Deutschland. Bei den jungen Erwachsenen unter 25 Jahren ist jeder Vierte von Armut bedroht.

„Unsere Schüler haben häufiger kein Elternhaus, das sich gut um sie kümmert. Manche werden auch geschlagen“, erzählt Winter. „Doch ohne Geld ist es schwer, weswegen sie nicht so einfach von zu Hause raus kommen.“ Und wenn sie doch gehen, sind sie oft auf die spontane Hilfe der Lehrkräfte angewiesen. Darum die Lebensmitteltüten. Für den Schüler, der mit 17 Jahren den Heimplatz räumen musste. Für den Schüler, dessen Mutter gestorben ist und der auf die Waisenrente warten musste. Für die Geschwister, deren Zuhause abgebrannt ist.

Scham spielt eine große Rolle

Doch die Wenigsten vertrauen sich den Lehrkräften mit ihrer Not an. Scham spielt beim Thema Armut eine große Rolle. Meist erkenne man aber, wenn Schülerinnen und Schülern Geld fehle, sagt Winter. Zerschlissene Klamotten, mangelnde Pflege, all das könnten Hinweise sein. Und dann sind da noch ein paar andere, um die sie sich sorgt. Die Schülerinnen, die plötzlich teure Klamotten tragen, stark geschminkt zur Schule kommen. „Bei der ein oder anderen Schülerin frage ich mich, ob sie anschaffen geht, als Webcam-Girl arbeitet oder einen Sugardaddy hat“, sagt Winter. Anders könne sie sich den Lebensstil kaum erklären.

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Das Problem der Armut ist nicht neu an Winters Schule. Mit Sozialarbeit und engen Kontakten zu den Schülerinnen und Schülern versuchen sie, die jungen Erwachsenen so gut es geht zu unterstützen. Sie haben zwar einige Sozialarbeiterstellen, trotzdem fließen kaum zusätzliche Gelder, Lehrkräfte fehlen, die Infrastruktur ist marode. Unterstützung durchs System erfahren Bildungseinrichtungen kaum. „Natürlich bin ich frustriert“, sagt Winter, „trotzdem höre ich nicht auf zu helfen. Die Schüler können ja nichts dafür.“

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Versteckte Kosten sichtbar machen

Dabei gäbe es durchaus Möglichkeiten, Schulen, Lehrkräfte und vor allem betroffene Schülerinnen und Schüler besser zu unterstützen. Die versteckten Kosten müssten auf den Tisch, sagt Professorin Betz. Gemeint sind damit auch all die Beträge, die Eltern über das Schuljahr hinweg bezahlen und von der Schule stillschweigend vorausgesetzt werden: Schulausflug, neue Kleidung für den Schulsport, Klassenkasse, Geschenke für Geburtstage von Lehrern und Schülern, Spenden zur Verschönerung des Klassenzimmers.

Hinzu kommen all die Dinge, die Kinder und Jugendliche für den Unterricht brauchen. „Wenn Material und Schulbücher tatsächlich kostenlos wären, würde das schon helfen“, meint Berufsschullehrerin Winter. Eine weitere Stellschraube könnte die Zuweisung von Geldern und Lehrkräften sein, sagt Betz. Die besten Lehrkräfte, die meisten Gelder sollten dort landen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Und Schulen sollten die Gelder autonomer verwalten können.

Von Armut betroffene Kinder und Jugendliche sind besonders stark auf eine Umgebung angewiesen, die ihnen das Wachsen ermöglicht. Auf Lehrkräfte, die hinsehen, sich engagieren. Die einen Unterschied machen. Und sei es mit einem Brötchen am Morgen.

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* Namen von der Redaktion geändert

Dieser Text ist zuerst am 22. November 2023 erschienen.

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