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Wirtschaft EU-Profiteur Rumänien

Europas Bauernstaat erlebt einen Stolper-Boom

Redakteur Wirtschaft und Finanzen
Imposant: Der Parlamentspalast in Bukarest gehört flächenmäßig zu den größten Gebäuden der Welt Imposant: Der Parlamentspalast in Bukarest gehört flächenmäßig zu den größten Gebäuden der Welt
Imposant: Der Parlamentspalast in Bukarest gehört flächenmäßig zu den größten Gebäuden der Welt
Quelle: Getty Images
In Rumänien wird am Sonntag gewählt. Das Land ist einer der größten EU-Profiteure und auf beträchtlichem Wachstumskurs. Gleichwohl bleibt viel zu tun: Insbesondere die Korruption schreckt Investoren ab.

Es läuft gut zwischen Donau und Pruth. Wirtschaftlich holt Rumänien seit seinem EU-Beitritt 2007 enorm auf. Insbesondere in Großstädten und im Westen stieg der Lebensstandard rasant. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf näherte sich dem EU-Mittelwert sprunghaft an: von 34 Prozent auf 64 Prozent, meldet Eurostat. In der Hauptstadt Bukarest verfügt die Bevölkerung über 140 Prozent des EU-Durchschnittseinkommens.

Gesamtwirtschaftlich wächst das Land beträchtlich: Nach dem Rekord von sieben Prozent im Jahr 2017 sprang die Wirtschaft nun um vier Prozent und wird sich der Weltbank zufolge künftig bei drei Prozent jährlich einpendeln.

Vor allem drei Faktoren stimulieren: EU-Hilfen, Direktinvestitionen und eine konsumtreibende Fiskalpolitik. Auch der Agrarexport und die IT-Branche entwickeln sich sehr dynamisch. Wegen eigener Gasvorkommen ist der postkommunistische Staat nur marginal auf Importe aus Russland angewiesen.

Die Kehrseite: Rumänien ist ein halber Bauernstaat. Zwar sank der Anteil der Landwirtschaft an der Wertschöpfung seit 2005 von zehn auf gut vier Prozent. Doch weiter arbeitet ein Viertel der Rumänen auf dem Acker, die meisten als Selbstversorger.

Mehr als drei Millionen Rumänen gastarbeiten

Knapp vier Millionen Höfe, jeder dritte EU-Bauernhof, befindet sich in Rumänien. Einzig in der Slowakei leben mit 46 Prozent ähnlich viele Menschen auf dem Land. Dass Rumänien größter Getreideexporteur der EU ist, verdankt es den wenigen ertragreichen Kolchosennachfolgern in ausländischer Hand.

Quelle: Infografik WELT

Die Selbstversorger sind oft nicht arbeitssuchend gemeldet. Auch deshalb liegt die Arbeitslosenquote bei allzu schmalen vier Prozent. Mittlerweile fehlen bereits Fachkräfte, hauptsächlich wegen der Abwanderung. Seit 2005 ist die Bevölkerung um ein Zehntel auf weniger als 20 Millionen Einwohner gesunken. Mehr als drei Millionen Rumänen gastarbeiten, die Rentenkassen leeren sich zunehmend.

Zwei Drittel der Gastarbeiter schicken aus Italien, Spanien und Deutschland Geld an Zuhausegebliebene, von denen immer noch 16 Prozent ohne Zugang zu Sanitäranlagen und 36 Prozent ohne Internetzugang leben. Im Index der menschlichen Entwicklung der Vereinten Nationen (HDI) hält Rumänien die rote Laterne in Europa. Die Durchschnittslohntüte war 2018 mit 640 Euro netto im Monat eher halbleer – Bulgarien und Kroatien sind ärmer.

EU-Profiteur mit Handelsmanko

Und dennoch: Kein Land hat im vergangenen Jahrzehnt derart von der EU profitiert. Seit dem Beitritt 2007 erhielt Bukarest abzüglich der eigenen Einzahlungen knapp 30 Milliarden Euro aus EU-Töpfen. Zuletzt bezog Rumänien knapp zwei Prozent des BIP aus Brüssel. Weitere rund zwei Prozent stammen aus den Rücküberweisungen der Gastarbeiter, deren Summe sich seit dem freien Grenz- und Kapitalverkehr verdoppelte.

Quelle: Infografik WELT

Der wichtigste, ebenfalls EU-stimulierte Treiber ist der Außenhandel. Die Mitgliedschaft verdreifachte das Handelsvolumen mit den EU-Staaten: Es macht inzwischen drei Viertel des Außenhandels aus. Deutschland ist mit Abstand wichtigster Handelspartner, zeichnet für 23 Prozent der Exporte und 20 Prozent der Importe verantwortlich.

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Die Außenhandelsbilanz als Wermutstropfen zu bezeichnen wäre untertrieben: Das Minus liegt mit 18 Prozent dreimal höher als 2005. Jüngst erhöhten die angehobenen Staatsgehälter und Renten den Konsum und damit auch die Importe. Laut Internationalem Währungsfonds (IWF) wird sich der Außenhandel vorerst auch nicht erholen. Der IWF rechnet jährlich mit einer Hypothek von etwa fünf Prozent des BIP.

Korruption hemmt weiterhin

Bei aller EU-Euphorie: Seit dem Frühjahr drohte Ungemach aus Brüssel. Ähnlich wie die ungarische und polnische Regierung hatten die zuletzt regierenden Postkommunisten (PSD) eine umstrittene Justizreform aufgesetzt: Die PSD plante, das Korruptionsstrafrecht durch kürzere Verjährungsfristen, Straffreiheit bei Selbstanzeige und mildere Strafen weichzuspülen und eine Sonderabteilung einzurichten, die gegen Richter und Staatsanwälte ermittelt. Die Europäische Kommission schritt ein.

Anders als Polen und Ungarn, gegen die die Kommission bereits Rechtsstaatlichkeitsverfahren eröffnete, zog Rumänien die geplante Justizreform zurück.

Der Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Bukarest, Martin Sieg, versichert WELT: „Die Kontroversen um den Rechtsstaat sind erledigt.“ Der Zugewinn an politischer Sicherheit dürfte Unternehmer beruhigen.

Gleichwohl bleibt viel zu tun: Insbesondere die Korruption schreckt Investoren ab. Im „Ease of doing business“-Index der Weltbank sackte Rumänien binnen Jahresfrist um sieben Plätze auf den 52. Rang ab und befindet sich in Europa im hinteren Drittel. Der 146. Rang bei der korruptionsanfälligen Komponente „Baugenehmigungen“ bekümmert sehr.

Die Korruption ist seit Jahren unverändert hoch, glaubt man Transparency International. Die Bekämpfung ist zwar öffentlichkeitswirksam. Strafrechtliche Abschreckung beseitigt aber nicht die Urübel: Gesetzeswirrwarr, Beamtenwillkür, Klientelismus, klamme Finanzen der Behörden und ihrer Beschäftigten. Zahlreiche Regierungen wollten korrupte Politiker durch Gesetze und Eilverordnungen bis zuletzt vor Strafverfolgung schützen.

Neue Regierung macht Unternehmern Mut

So gelang es der regierenden PSD, in den vergangenen drei Jahren drei Ministerpräsidenten zu verschleißen – in Korruptionsskandalen und Misstrauensvoten. Mit dem jüngsten Regierungswechsel wurde jetzt nicht nur der Kopf, sondern auch die Regierungspartei ersetzt: Der neue Ministerpräsident heißt Orban, Ludovic Orban. Der Vorsitzende der Nationalliberalen Partei (PNL) löst Viorica Dancila von der sozialistischen PSD ab.

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PNL-Mann Orban wird die Regierung wohl bis zur Wahl im Dezember 2020 führen. Seine Mitte-rechts-Partei, die im Europaparlament zur christdemokratischen EVP-Fraktion gehört, besetzt 69 von 329 Parlamentssitzen. Mithilfe abtrünniger Sozialdemokraten und von fünf Kleinparteien fuhr Orban ein knappes Vertrauensvotum für eine Minderheitsregierung ein. Viele dürften Orban aus Angst vor Neuwahlen und Immunitätsverlust unterstützt haben.

Unternehmen im In- und Ausland dürfen sich freuen: Mit dem Abtritt der PSD verschwinden Unsicherheiten. Des Öfteren hatte sie über Nacht per Eilverordnung das Steuersystem und Sozialabgaben geändert. So etwas wird es Martin Sieg zufolge unter Orban nicht geben.

Er plant wirtschaftspolitisch nach eigener Aussage ein „makroökonomisches Gleichgewicht“. Er will das Investitionsklima verbessern, in „Schlüsselinfrastruktur“ investieren, Exilrumänen in die Heimat lotsen, den Staatsapparat entschlacken und die Institutionen professionalisieren.

Präsident unterstützt Orbans Kurs

KAS-Experte Sieg hält diese „wirtschaftsfreundliche Politik“ für glaubwürdig, wenngleich er „keine radikalen Schritte“ erwartet. Orban wolle Vertrauen von Investoren gewinnen und strukturelle Probleme wie das „völlig unterentwickelte“ Straßen- und Schienennetz angehen, indem er EU-Fonds stärker ausschöpft. Demnächst steht die Vergabe für die Jahre 2021–2027 an. Der öffentliche Dienst sei Sieg zufolge in der Tat ineffizient, überbesetzt und unterbezahlt. Hunderttausende Mitarbeiter würden nicht gebraucht.

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Zwei Dinge werden Orban das kommende Jahr erschweren: erstens, den Staatsetat im Parlament streng genug zu gestalten, um den Haushalt zu stabilisieren, zweitens, die angekündigten Wahlgeschenke der PSD – üppigere Staatsgehälter und Renten – abzuschmettern.

Mit Staatspräsident Klaus Iohannis, selbst einst PNL-Vorsitzender, hat Orban einen Mitstreiter. Der 56-Jährige gilt als progressiv, nahm an Antikorruptionsdemonstrationen teil, stellte sich damit offen gegen die PSD, verhinderte Begnadigungen korrupter Politiker und schützte als oberster Verfassungshüter Justiz und LGBT-Rechte.

An diesem Sonntag tritt er als haushoher Favorit im zersplitterten Bewerberfeld zur Präsidentschaftswahl an. Umfragen prophezeien ihm 45 Prozent. Das reicht nicht für die absolute Mehrheit. Doch in 14 Tagen, bei einer möglichen Stichwahl, wird sich der deutschstämmige Iohannis aller Voraussicht nach durchsetzen.

„Stabile, normale Politik ohne Sperenzien“

Mit Orban, der der ungarischen Minderheit entstammt, befindet sich Iohannis auf einer Linie. Zusammen haben sie bereits Wahlkämpfe gefochten. Beide sind bisher nicht durch Korruption aufgefallen. Beide wollen Rumänien „als konstruktiven Partner der EU etablieren“, meint KAS-Mann Sieg. Sie stünden für eine „stabile, normale Politik ohne Sperenzien“.

Die Minderheitsverhältnisse lassen indes keine besonders handlungsfähige Regierung erwarten. Fallweise muss der Regierungschef Mehrheiten aushandeln. Zudem ist Orban den Zwängen des kommenden Wahlkampfs unterworfen. Auch die schwachen Institutionen und die Korruption hemmen.

Dennoch würde die Wiederwahl von Iohannis den Weg nach Europa ebnen. Bei den Europawahlen hatten die Rumänen bereits proeuropäische Rauchzeichen gesendet. Die Integration geht weiter, der Eintritt in die Euro-Zone bis 2026 wurde im Februar bereits angebahnt.

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