Eine gestrichelte Linie durchzieht das Zentrum von Stettin. Sie ist gut sieben Kilometer lang, in roter Farbe auf den Gehweg gemalt und führt Besucher zu den wichtigsten Attraktionen einer Stadt, die noch immer touristisch unterschätzt ist. Dabei bietet die frühere Hauptstadt der preußischen Provinz Pommern, die seit 1945 Szczecin heißt und zu Polen gehört, faszinierende Facetten.
Der rote Weg führt durch Altes und Neues, Widersprüche und Kontraste. Durch Mittelalter und Hanse, Herzogtum und Renaissance. Schwedenära, Preußenherrschaft, Gründerzeit.
Er stößt Gedanken an zu Zweitem Weltkrieg mit massiver Zerstörung, Sozialismus, Wende und Gegenwart – die mal brutal hässlich wie die gigantische Betonbrücke im Zentrum daherkommt, mal avantgardistisch und schön wie die preisgekrönte Philharmonie. Zu Fuß entdeckt man Kirchen und Museen, Paläste und Parkanlagen, Promenaden und Plätze.
Jede der 42 Stationen ist mit einem Kreis markiert. An dem mit der Nummer 23 etwa informiert eine Tafel an einem Haus darüber, dass hier 1729 dem Stettiner Festungskommandanten eine Tochter geboren wurde, die später Weltgeschichte schrieb – als Zarin „Katharina die Große“.
Vom Bahnsteig ins Geschehen
Wer mit dem Zug anreist, kann gleich auf der roten Linie weiter spazieren, sie beginnt am Hauptbahnhof. Grundsätzlich aber ist es völlig egal, wo die Tour beginnt. Attraktiv ist zum Beispiel ein Start an der mondänen Hakenterrasse. Das städtebauliche Glanzstück Stettins mit vier monumentalen Gebäuden, zwei Treppen, zwei Pavillons, einem Brunnen und zwei leuchtturmähnlichen Säulen entstand Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem namensgebenden Oberbürgermeister Hermann Haken, der Stettin 30 Jahre regierte.
Hier, 19 Meter über der Oder, erstreckt sich eine Art Promenadendeck über 500 Meter Länge. Sehenswert sind hier die Prachtbauten des Nationalmuseums (Station 14) und des Woiwodschaftsamtes (15).
Und das Panorama dort lässt keine Wünsche offen: Oder und Oderinseln, Riesenrad und Hafenkräne, die sie hier liebevoll „Kranosaurier“ nennen, alles hat man im Blick. Ebenso das Maritime Wissenschaftszentrum, ein Ausstellungsgebäude wie ein Mega-Schiffsrumpf – ein neuer Superlativ zum Anschauen, Anfassen und Mitmachen.
Nächste Adresse auf der roten Linie: das Stettiner Schloss, früher Sitz der Pommerschen Herzöge (Station 9). Auf dem Weg dahin grüßen der zugewucherte Siebenmantelturm (11), ein Relikt der mittelalterlichen Stadtmauer. Dazu mehrere Brückenpfeiler mit Street-Art, ein Bild auf rauem Beton zeigt Blitzer-Polizisten, die akkurat an Ort und Stelle ihrer unbeliebten Pflichten verewigt wurden.
Dann das Schloss selbst: Es erhebt sich mit fünf Flügeln, drei Türmen, zwei Höfen und astronomischer Turmuhr standesgemäß auf einem Plateau über der Oder und ist auch eine Institution, wenn es um Konzerte, Theater, Oper und Ausstellungen geht.
Trümmerfeld und Architekturhighlights
Überall in der Stadt finden Spaziergänger Spuren der ereignisreichen Stadtgeschichte. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts boomte Stettin als deutsche Industrie- und Hafenstadt mit repräsentativem Städtebau nach Pariser Vorbild. Im Zweiten Weltkrieg wurde sie weitgehend in Schutt und Asche gelegt.
Das Trümmerfeld überließ die sowjetische Besatzungsmacht der Volksrepublik Polen. Die Bevölkerung wurde fast vollständig ausgetauscht: Die deutschen Einwohner wurden vertrieben, polnische Flüchtlinge aus Gebieten, die sich die Sowjetunion einverleibt hat, fanden hier ein neues Zuhause. Stettins Bausubstanz diente anfangs auch als Steinbruch für das von den Nazis zerstörte Warschau, bevor zögernd der Wiederaufbau begann.
Heute ist der Eindruck von Szczecin: jung, lebendig, dynamisch, modern. Voll von toller Architektur. Mehr als die Hälfte der Stadtfläche wird von Parks und von Wasser bedeckt.
Und der drittgrößte Friedhof Europas, der Cmentarz Centralny w Szczecinie, ist hier tatsächlich eine gefragte touristische Attraktion. Gäste aus vielen Ländern kommen auch zu Segelevents wie Sail Szczecin und den Tall Ships Races mit den größten Segelschiffen der Welt in die Stadt. All dies erwartet Besucher gleich hinter der deutschen Grenze, quasi vor der Haustür Berlins und nur 65 Kilometer entfernt von der Ostsee.
Vorbei am Alten Rathaus (Station 7), einem Schmuckstück der Europäischen Route der Backsteingotik mit Minibrauerei und stimmungsvollem Restaurant im Keller, geht es weiter, runter zur Oder.
Am Fluss wartet ein hübscher Flanierweg (6a) mit Platz zum Sitzen und Sonnen, Essen und Trinken. Metallschilder im Boden und Bronzefiguren erinnern an Stettins maritime Geschichte, fünf stilisierte Heringsfässer an den einstigen Ursprung des städtischen Reichtums – als Stettin mit kilometerlangen Lagerschuppen der größte Stapelplatz für Fisch in Deutschland war. Oder wie es Stadtführer Przemek Jackowski grinsend formuliert: „Bevor man Stettin sah, hatte man es schon gerochen.“
Deutsche Vergangenheit, polnische Gegenwart
Weiter geht’s zur gotischen Johanniskirche an der Oder (5), in der drei Pfeiler erheblich aus dem Lot ragen. Vis-a-vis wurde eine alte Trafostation umgestylt zum zeitgenössischen Kunstzentrum. Ein Wandbild an ihrem früheren Standort zeigt die Synagoge, die von den Nazis 1938 zerstört wurde.
Das Rote Rathaus (41), ein neugotischer Backsteinbau des Architekten Karl Kruhl von 1878, beherbergt inzwischen das Seefahrtsamt und das Kino Pionier 1907 (37a) ist laut „Guinessbuch der Rekorde“ das älteste Lichtspieltheater der Welt, das noch in Betrieb ist.
Hier und anderswo zeigt sich: Die deutsche Vergangenheit, die unter sozialistischer Herrschaft stigmatisiert wurde, gehört für die heutigen Stettiner zu ihrer Stadtgeschichte – ihre Highlights werden genauso präsentiert wie die der polnischen Gegenwart.
An prächtigen Palästen (27, 28) und am Adlerbrunnen (26) vorbei führt der rote Strich dann zur wuchtigen Jakobikirche (24). Einst nach dem Vorbild der Lübecker Marienkirche im Stil der Backsteingotik erbaut und wie so viele Gebäude schwer zerstört im Krieg, wurde sie später wieder instandgesetzt. Kuriosester Schatz: Das Herz des Organisten Carl Loewe, der sein Publikum mit romantischen Balladen bezauberte, ruht eingemauert in einen Pfeiler neben seiner geliebten Barockorgel.
Die letzte Station dieser Rote-Linien-Tagestour ist zugleich ein würdiges Finale. Die Station 19 bietet gleich vier Sehenswürdigkeiten, von denen es drei noch gar nicht gab, als die rote Route 1993 zum 750-jährigen Stadtjubiläum eröffnet wurde. Zur spätgotischen Peter-und-Paul-Backsteinkirche (19c) gesellte sich erstens ein riesiger Bronzeengel im Andenken an 16 Werftarbeiter, die 1970 bei Protesten gegen die damalige Regierung getötet wurden.
Der schräg ansteigende Solidarność-Platz (Platz der Solidarität), auf dem er steht, bildet wiederum das Dach einer unterirdisch angelegten, ganz besonderen Abteilung des Stettiner Nationalmuseums: Das Dialogzentrum Przełomy (Umbrüche) beleuchtet eindrucksvoll die jüngere Geschichte von Stettin und Umgebung, insbesondere die Rebellionen ab 1970, die Entwicklung der Solidarność-Bewegung und die bahnbrechenden Ereignisse, die 1989 dazu führten, dass Polen den Kommunismus abschütteln konnte.
Ausgezeichnete Gebäude in Stettin
Die Ausstellung ist sehenswert. Zudem wurde der Bau des polnischen Architekten Robert Konieczny auf dem Welt-Architektur-Festival in Berlin als „Gebäude des Jahres 2016“ ausgezeichnet.
Der zweite Clou ist das avantgardistische Konzerthaus der Philharmonie (19b). Wand an Wand mit dem gründerzeitlichen Polizeihauptquartier (19c) schimmert der weiße Giebelbau tagsüber wie ein Eisberg. Im Dunkeln wird die Aluminiumfassade beleuchtet.
Fast noch umwerfender ist das Innere: die weiße Lobby mit Wendeltreppe, die Konzertsäle mit grandioser Akustik. Das Gebäude, entworfen von den spanisch-italienischen Architekten Alberto Veiga und Fabrizio Barozzi, wurde mit dem Mies-van-der-Rohe-Preis als das beste Bauwerk des Jahres 2014 gekrönt. Kein Wunder, dass sich hier Architekturfans und Musikliebhaber aus aller Welt die Klinke in die Hand geben.
Tipps und Informationen
Anreise: Mit dem Zug und/oder Bus ist Stettin zum Beispiel ab Berlin in rund 2,5 Stunden erreichbar.
Unterkunft: „Radisson Blue“, Top-Lage an der roten Linie, Übernachtung im Doppelzimmer mit Frühstück ab 109 Euro; im „Park Hotel“ nahe der Hakenterrasse ab 120 Euro
Rumkommen: Einzelheiten zum „roten Weg“ hat das Touristenbüro zusammengetragen. Die Stettiner Touristenkarte für 24 oder 72 Stunden bietet kostenlose Fahrten mit dem ÖPNV, Ermäßigungen für Museen sowie in Cafés und Restaurants.
Weitere Infos: Polen Travel; Visit Szczecin
Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt vom Polnischen Fremdenverkehrsamt. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit