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Parteien und TikTok

„Nee, mach ich nicht, kannste vergessen“, sagt Wüst und rauscht ab

Von Till-Reimer Stoldt
Veröffentlicht am 22.06.2024Lesedauer: 6 Minuten
Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen.
Hendrik Wüst (CDU), Ministerpräsident von Nordrhein-WestfalenQuelle: Jan Woitas/dpa

Die Parteien der Mitte rufen verstärkt dazu auf, von der AfD zu lernen und soziale Netzwerke wie TikTok offensiver zu bespielen. Doch ob auf Worte Taten folgen, ist zweifelhaft. Denn gekonntes TikToken ist riskant, anstrengend – und verlangt von der Politik manch unbequeme Wendung

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„Sollen wir’n TikTok-Video machen?“ Ina Brandes, Wissenschaftsministerin in NRW, schaut ihren Ministerpräsidenten Hendrik Wüst fragend an. Und beginnt, für ihren TikTok-Kanal zu filmen. Doch Wüst blickt eher skeptisch als freundlich in die Handy-Kamera der Parteifreundin und murmelt „Soll ich da jetzt …?“ Sogleich winkt er ab und gibt sich selbst die Antwort: „Nee, mach ich nicht, kannste vergessen!“. Und schon eilt er aus dem Bild.

Die Szene vom CDU-Bundesparteitag im Mai belegt es einmal mehr: Die Beziehung der Politik zu TikTok, der digitalen Plattform für Kurzvideos, ist schwierig. Im März fingen Bundesprominente wie Kanzler Scholz und Bundesgesundheitsminister Lauterbach an, dort Videoclips hochzuladen. Schon zuvor hatte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder damit begonnen.

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In der Breite aber haben sich die Parteien der Mitte in den meisten Bundesländern erst im April aufgemacht, dort ihre Präsenz auf- oder auszubauen. Immerhin sind pro Monat deutschlandweit knapp 21 Millionen Menschen auf TikTok aktiv. Dort erreicht man nicht nur viele, sondern vor allem junge Zeitgenossen. TikTok ist die Plattform schlechthin für Jugendliche.

TikToken als AfD-Prophylaxe?

Auf die hat die Politik es abgesehen – insbesondere seit den AfD-Erfolgen bei den vergangenen Wahlen. Denn bei Bayern-, Hessen- oder zuletzt Europawahl erzielte unter jungen Wählern stets die Rechtspartei die größten Stimmenzugewinne. Nicht wenige Experten führen dies wesentlich auf die gekonnte Kommunikation der AfD auf TikTok zurück. Sie hat dort die weitaus höchsten Abo- und Klickzahlen. Die will die Konkurrenz ihr abluchsen.

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Jedenfalls theoretisch. In der Praxis bleibt die verheißene Digitaloffensive halbherzig und in Ankündigungen stecken. Dafür gibt es gute Gründe. Denn: Ob Parteien der Mitte auf der Jugendplattform mehr gewinnen als verlieren, etwa durch peinliche Auftritte, ist nicht ausgemacht. Deshalb ist unklar, ob sie wirklich TikTok erobern werden – wie ein Blick nach NRW vor Augen führt.

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Offiziell blasen sie dort spätestens seit der Europawahl zur digitalen Attacke; NRW-Medienminister Nathanael Liminski (CDU), ranghöchster Medienpolitiker des Landes, sagte WELT, eins könne man von der AfD lernen, nämlich „die stärkere Bespielung von Kanälen wie TikTok. Da besteht viel Nachholbedarf.“ Auch die Sprecher von Partei und Fraktion der NRW-SPD betonen, „das Ergebnis der Europawahl“ habe „gezeigt, dass wir uns auf Plattformen wie TikTok viel langfristiger etablieren müssen“, gerade auch, um die AfD effektiver zu bekämpfen – weshalb „ein weiterer Effizienz- und Professionalisierungsschub unerlässlich“ sei.

Einsamer Höhenflug der AfD

Bislang allerdings lädt niemand im schwarz-grünen Landeskabinett auf der Plattform Videos hoch – außer Wissenschaftsministerin Brandes. Medienminister Liminski winkte auf Anfrage dieser Zeitung, ob er nicht selbst tiktoken wolle, ab. Aber auch bei den meisten Landesparteien oder -fraktionen kann man schwerlich von einem gut funktionierenden TikTok-Kanal sprechen. Am ehesten bei den Grünen, die 5049 Abonnenten haben. Bei der FDP sind es gerade mal 426, bei der SPD über ihre Jugendorganisation 823, bei der CDU über ihre Jugendorganisation 3601 Follower.

Verglichen damit kreist die NRW-AfD in einsamen Höhen: Bei TikTok mit 111.200 Followern, bei YouTube mit 127.000 Abonnenten und über 95 Millionen Aufrufen – womit sie einen der erfolgreichsten parlamentarischen YouTube-Kanäle aller Bundesländer betreibt. Die AfDler produzieren aber auch ein Vielfaches an Videos und tauschen sich mit ihren Followern aus. Darin liegt ein Grund für das Zaudern der Mitte-Parteien: Gekonntes Tiktoken ist anstrengend.

Wer hat Lust auf offenen Austausch im Netz?

Was auch Marc Ziegele bestätigt. Der Professor für Kommunikationsforschung der Uni Düsseldorf beobachtet, „Parteien der Mitte“ neigten dazu, „traditionelle Kommunikationsstrategien auf soziale Netzwerke zu übertragen – also Plattformen als PR-Kanal zu nutzen und Selbstdarstellungs- und Informationskampagnen ohne echtes Interesse an sozialer Interaktion“ zu präsentieren. „Junge Menschen sind aber mit Kommentarfunktionen unter Social-Media-Beiträgen aufgewachsen, sie erwarten, dass politische Akteure in diesen Kommentarspalten mitdiskutieren.“

Das klingt nach Arbeit. Und zu der ist die AfD laut Ziegele bereit: „Die AfD hat gezeigt, wie man soziale Netzwerke effektiv nutzen kann, um eine breite Anhängerschaft zu mobilisieren: Sie betreibt aktive Interaktion mit ihren Anhängern, was Bindung und Loyalität stärkt.“ Diesen Befund teilt die AfD selbstredend, sie formuliert ihn aber provokanter: „Auf Social Media herrscht“, so sagt ein AfD-Sprecher dieser Zeitung, „was die anderen Parteien in der analogen Welt meiden: direkte Demokratie, freier Meinungsaustausch. Vielleicht liegt es daran, dass Social Media 20 Jahre nach Gründung von Facebook noch immer irgendwie ‚Neuland‘ für die anderen ist.“

Zweischneidiges Erfolgsrezept

Die Mitte-Parteien haben aber ein noch grundsätzlicheres Problem mit TikTok. Sie bezweifeln, dass diese Plattform die Aufwertung verdient, die die Politik ihr mit verstärkter Aufmerksamkeit bescheren würde. TikTok führe „zu Überforderung durch ungefilterten Content“, seufzt Liminski, zudem gebe es „leider viel Schund und Dreck in den digitalen Netzwerken. Das sage ich nicht nur als Medienminister oder Sohn eines Journalisten, sondern auch als Vater von vier Kindern.“

Obendrein sei bei TikTok aufgrund „der chinesischen Herkunft des Mediums die Datensicherheit“ ein Problem. Auch sei es „richtig, dass die EU-Kommission auf Folgen für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen hinweist.“ Hinzu kommt: Das AfD-Erfolgsrezept bei TikTok ist zweischneidig. „Die AfD verwendet klare, oft polarisierende Botschaften, die leicht zu verstehen und zu verbreiten sind, und die beim Publikum mobilisierende Emotionen hervorrufen“, beobachtet Forscher Ziegele. Das könne „die Reichweite in sozialen Netzwerken zwar verbessern“, damit könne man aber „auch schnell ethische Grenzen überschreiten, die oft mit extremen und polarisierenden Inhalten verbunden sind“.

„Wir tanzen nicht!“

Will man das Risiko eingehen? Liminski sieht da einen schwer zu beseitigenden Wettbewerbsnachteil: „Politik ist oft komplex. Die Kunst ist, diese komplexen Sachverhalte auf kurze Videobotschaften herunterzubrechen, ohne dabei ins Ungenaue oder Unseriöse abzudriften. Für Populisten, die von Vereinfachung und Verfälschung leben, ist das ungleich einfacher.“ Das sehen die Kritisierten natürlich anders. Die AfD in NRW betont, sie setze gerade nicht auf akustische und optische Knall-Bumm-Effekte. Sondern auf Inhalt.

Tatsächlich präsentieren ihre Kanäle meist schlicht Ausschnitte aus Landtagsreden ihrer Politiker. Deshalb erklärt die AfD ihre Erfolge auch anders. Ein Fraktionssprecher sagt, „vielleicht das Wichtigste“ für den Erfolg der Partei auf TikTok & Co. sei die Maxime „Wir tanzen nicht, sondern machen das, was unsere Aufgabe ist: Politik. Junge Wähler wollen nicht verschaukelt werden“.

Das Privileg analoger Kommunikation

Und dann gibt es da noch einen Grund, weshalb CDU, SPD, FDP und Grüne eher halbherzig mit TikTok umgehen: Ihnen stehen alternativ neben klassischen Medien auch die Möglichkeiten der analogen Kommunikation weit offen, wie sich vor der Europawahl zeigte. Ihre Vertreter wurden zu Hunderten Veranstaltungen in Schulen, Vereinen, Initiativen eingeladen, um sich vorzustellen. Der AfD dagegen bleiben diese Bühnen meist verschlossen. Dort erhalten Politiker die Chance, sich ohne, ja gegen die Kurzvideo-Plattformen zu profilieren – so wie Liminski.

Er schwärmt von seinen Schülergesprächen, „entgegen mancher Behauptung, wonach die junge Generation so oberflächlich sei, ist ihr Wunsch nach Tiefgang groß. Die Jugendlichen wollen ernst genommen werden und mehr als nur einfache Botschaften in kurzen Video-Snippets.“