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RAF-Terror

„Das Attentat war eine Zäsur in meinem Leben“

Autorenprofilbild von Philipp Woldin
Von Philipp WoldinPolitischer Korrespondent
Veröffentlicht am 09.05.2022Lesedauer: 14 Minuten
Annemarie Eckhardt, 97 Jahre, lebt heute in einem Pflegeheim in Mülheim an der Ruhr. Vor 50 Jahren wurde ihr Mann Hans im Dienst von einem RAF-Terroristen erschossen.
Annemarie Eckhardt, 97 Jahre, lebt heute in einem Pflegeheim in Mülheim an der Ruhr. Vor 50 Jahren wurde ihr Mann Hans im Dienst von einem RAF-Terroristen erschossen.Quelle: Silvia Reimann/ZGB

Der Hamburger Kriminalpolizist Hans Eckhardt beschützte Helmut Schmidt und die Queen. Ein Terrorist der RAF erschoss ihn vor 50 Jahren im Dienst. Seine Witwe berichtet von ihrem Leben danach und dem unsensiblen Umgang des Staates.

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Vor den Erinnerungen gibt es erst mal Butterkuchen. Annemarie Eckhardt, 97 Jahre alt, hat darum gebeten, ihr ein paar Stücke aus ihrer alten Heimat mitzubringen. Mitte der Neunzigerjahre zog sie von Hamburg nach Mülheim an der Ruhr. Eine späte, neue Liebe führte sie in den Westen. Inzwischen lebt sie in einem Heim, für das Interview hat die Heimleitung ein helles Eckzimmer eingedeckt. Auf einem Tisch liegen alte Fotoalben, Schnappschüsse in Schwarz-Weiß, Überbleibsel eines anderen Lebens.

Annemarie und Hans Eckhardt gemeinsam auf Reisen. Ihr Mann im Strandkorb, ein Mann mit offenem Lachen, die Sonne steht ihm im Gesicht. Eckhardt und die Queen, Eckhardt und Ludwig Erhard, damals Bundeskanzler. Auch ein Kondolenzbuch mit Briefen von früheren Ministern und Mitstreitern hat Annemarie Eckhardt herausgesucht. „Tiefe Bestürzung“, „aufrichtiges Mitgefühl“, „ehrenvolles Andenken“, alles abgeheftet in einer schwarzen Mappe.

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Vor 50 Jahren, im März 1972, hat ein Terrorist der Rote-Armee-Fraktion ihren Mann, den Hamburger Kriminalpolizisten Hans Eckhardt, bei einem Sondereinsatz angeschossen. Wenig später starb er im Krankenhaus. Seine Witwe sagt: „Er soll nicht vergessen werden.“

Hamburg, Mai 1965: Die Queen und Prinz Philip sind zu Besuch, im Hintergrund der Polizist Hans Eckhardt
Hamburg, Mai 1965: Die Queen und Prinz Philip sind zu Besuch, im Hintergrund der Polizist Hans EckhardtQuelle: SZ Photo

WELT AM SONNTAG: Ihr Mann war seit 1971 Chef der Hamburger Sonderkommission „Baader-Meinhof“. War er sich des besonderen Risikos dieses Postens bewusst?

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Annemarie Eckhardt: Wir haben es damals nicht als besonderes Risiko empfunden. Man muss wissen: Die RAF befand sich noch in ihren Gründungsjahren, man hielt sie für verirrte Anarchisten, die schrecklichen, aufsehenerregenden Morde fanden später statt. Unerfreulich fand er sein neues Einsatzgebiet sicher, mehr nicht. Hans fürchtete sich nicht. Als Polizist in der Staatsschutzabteilung hatte er oft mit schweren Fällen zu tun, reiste häufig an die Grenze nach West-Berlin. In DDR-Angelegenheiten.

WELT AM SONNTAG: Ihr Mann wurde 1946 Polizist, lange vor der Studentenbewegung, lange vor der Radikalisierung einiger Linker. Warum wählte er diesen Beruf?

Eckhardt: Nach dem Krieg brauchte man für viele Dinge des täglichen Lebens eine Arbeitsbescheinigung. Für die Lebensmittelmarken, aber auch, um als Soldat zurück in die Heimatstadt zu kommen. Mein Mann musste als ehemaliger Kriegsgefangener innerhalb von sechs Wochen eine Arbeitsstelle nachweisen. Und die Polizei suchte damals gerade Leute.

Hans war ein vollkommen unorthodoxer Polizist. Er lernte als Kind Geige spielen, als er sein Elternhaus verließ und zum Kriegseinsatz eingezogen wurde, nahm er sein Banjo mit ins Gepäck. 1943 kam er in Kriegsgefangenschaft, er verbrachte sie im tiefen Süden der USA, in Louisiana und Texas. Der American Way of Life prägte ihn. Er nahm das Leben mit einer gewissen Lässigkeit an, er hörte Jazzmusik und las gerne amerikanische Literatur.

Das Ehepaar Eckhardt im Juli 1968 auf einer Silbernen Hochzeit in Hamburg
Das Ehepaar Eckhardt im Juli 1968 auf einer Silbernen Hochzeit in HamburgQuelle: Silvia Reimann

Hans Eckhardt, geboren 1921, Sohn eines Polizeibeamten, kam bald zur Kriminalpolizei und später zum Staatsschutz. Die Einsätze wurden politischer, anspruchsvoller, gefährlicher. Eckhardt wurde Personenschützer von Helmut Schmidt, damals noch Hamburger Innensenator, er lief beim Deutschland-Besuch von Queen Elizabeth 1965 in Hamburg wenige Meter hinter der Königin. Auf vielen Zeitungsartikeln ist er im Bild zu sehen, ein Begleiter der Zeitgeschichte.

Für diese Aufgaben brauchte es besondere Polizisten, die sich nicht nur auf der Straße und in Akten zurechtfanden, sondern auch beim Galadinner mit Politikern und Prominenten. Man musste in seinem Job „mit Messer und Gabel essen können“, so drückt es Eckhardts Witwe aus. Für seine Familie war Eckhardt jemand, der aus den USA die Moderne mitbrachte. Für die Rote-Armee-Fraktion, kurz: RAF, war er ein Vertreter des „Schweinesystems“.

WELT AM SONNTAG: Was hielt Ihr Mann von der Studentenbewegung, die sich Ende der Sechzigerjahre entwickelt hatte, was hielt er von Woodstock, Dutschke und den Protesten gegen den Vietnamkrieg?

Eckhardt: Es ist das Recht der Jugend, zu demonstrieren und andere Gedanken zu haben, so sah er das. Nach dem Krieg wurde in vielen Elternhäusern geschwiegen. Er fand es richtig, dass die neue Generation die Verbrechen der Nazis aufarbeiten wollte und kritische Fragen stellte. Sonst spielten die Studenten keine große Rolle für uns. Wir lebten unser Leben.

WELT AM SONNTAG: Spätestens mit dem Aufkommen der RAF waren Polizisten zumindest latent bedroht. Die 1970 gegründete Gruppe sah sich als antiimperialistische Stadtguerilla nach südamerikanischem Vorbild. Haben Sie das zu spüren bekommen?

Eckhardt: Wir wohnten im bürgerlichen Hamburg-Langenhorn, nicht weit weg vom Bungalow des späteren Kanzlers Helmut Schmidt. Da gab es keine Sicherheitsvorkehrungen. Die Dienstwaffe brachte er nie nach Hause mit. Ich erinnere mich aber, dass wir uns intensiver verabschiedeten. „Bis nachher“ – wir sprachen die Worte bewusster aus.

Dann zog er seine Waffe

Wie an jenem 2. März 1972, bevor der Kriminalhauptkommissar Hans Eckhardt zu einem Einsatz fuhr. Ein anonymer Hinweis war bei der Polizei eingegangen, der die Beamten in eine Villengegend im Hamburger Stadtteil Harvestehude führte. In einer Wohnung in der Heimhuder Straße 82, so hieß es, betreibe die RAF eine Fälscherwerkstatt, in der sie Ausweise und Papiere herstellte.

Eckhardt leitete den Einsatz. Bis dahin war die RAF vor allem durch Banküberfälle und Diebstähle aufgefallen. Trotzdem war die Polizei alarmiert. Denn bei einer Personenkontrolle und einem Banküberfall erschoss die Gruppe 1971 zwei Polizeibeamte. Eckhardts Einsatz in Hamburg begann damit, dass ein Polizeikommando die Tür einer Wohnung im zweiten Stock aufbrach, der mutmaßlichen Fälscherwerkstatt. Niemand war zu sehen.

Also warteten die Ermittler in der dunklen Wohnung. Um 22.45 Uhr bog ein VW-Bus in die Straße ein, zwei Männer stiegen aus. Einer war Wolfgang Grundmann, 23, gesucht wegen eines Banküberfalls in Kaiserslautern, bei dem ein Polizist erschossen wurde. Der andere war Manfred Grashof, 25, Deckname „Carlos“, bekannt als Fälscher der RAF.

Als die beiden die dunkle Wohnung betraten, hörten sie: „Hände hoch, Polizei!“ Grundmann ergab sich. Grashof rief zurück: „Halt! Nicht schießen! Wir sind unbewaffnet.“ Dann zog er eine Waffe. So schilderte es der Staatsanwalt Hans-Dieter Nagel, der mit den Baader-Meinhof-Ermittlungen befasst war.

Die konspirative RAF-Wohnung in der Heimhuder Straße 82 in Hamburg heute
Die konspirative RAF-Wohnung in der Heimhuder Straße 82 in Hamburg heuteQuelle: Bertold Fabricius

WELT AM SONNTAG: Wie haben Sie von den Schüssen auf Ihren Mann erfahren?

Eckhardt: Hans hatte an diesem Abend ein schlechtes Gefühl, daran erinnere ich mich noch. Er war schon im Feierabend und wurde dann noch mal zu einem Einsatz gerufen. Ich spürte, alle, auch seine Kollegen, waren sehr vorsichtig. Dann erinnere ich mich nur, dass der Vorgesetzte meines Mannes spätabends vor unserer Wohnung stand und mir die Nachricht überbrachte. Ich bin an der Wand neben der Eingangstür in mich zusammengesackt.

Mehrere sogenannte Dum-Dum-Geschosse trafen Hans Eckhardt in Bauch und Schulter. Die Kugeln waren an der Spitze abgefeilt. Wer solche Munition verwendet, will töten.

Auszug aus einem Bericht der „Bild“-Zeitung nach der Tat: Die erste Kugel drang in Eckhardts Bauch ein und durchschlug seinen Dick- und Dünndarm. Sie riß eine große Wunde und blieb schließlich im Rücken stecken. Sie traf Eckhardts Darmgewinde an insgesamt zwölf Stellen und musste in einer Notoperation entfernt werden. Die zweite Kugel traf Eckhardt etwa in Herzhöhe.“ Die beiden anderen Polizisten in der Wohnung feuerten auf den Schützen, Manfred Grashof, und verletzten ihn schwer.

WELT AM SONNTAG: Ihr Mann und Manfred Grashof kamen in die Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Sie waren anfangs im selben Krankenzimmer untergebracht. Täter und Opfer Bett an Bett.

Eckhardt: Eine unerträgliche Situation. Ich war aufgebracht und sehr verletzt. Ich habe mich bei der Polizeidienststelle beschwert, Grashof wurde dann verlegt. Die Polizei schirmte mich anfänglich ab und kümmerte sich um mich, das war wohltuend. Später wurde ich zu Bekannten gebracht, einem Jagdfreund meines Mannes. Der hielt Kontakt zur Polizei und dem Krankenhaus. Mich hat man rausgehalten. Ich war kaum ansprechbar.

WELT AM SONNTAG: Ihr Mann lag drei Wochen auf der Intensivstation. Er schien zwischenzeitlich auf dem Weg der Besserung, acht Ärzte kämpften um ihn. Wurden Sie zu ihm vorgelassen?

Eckhardt: Ich war einmal bei ihm, da hat er mich nicht erkannt. Er war total entrückt.

WELT AM SONNTAG: Durch eine Lungenentzündung verschlechterte sich sein Zustand wieder, er war sehr geschwächt. Am 22. März starb er schließlich an den Folgen seiner Schussverletzungen. Wie haben Sie von ihm Abschied genommen?

Eckhardt: Ich konnte nicht mehr mit ihm sprechen, es gab keinen Moment des Abschieds. Eine gute Freundin war bei mir, als der Telefonanruf kam, sie nahm den Hörer auf. Alle waren von der Sache überfordert. Es gab keine psychologische Betreuung, keine Therapie. Kein wirkliches Verarbeiten.

Annemarie Eckhardt in ihrer Wohnung in Mülheim an der Ruhr
Annemarie Eckhardt in ihrer WohnungQuelle: Silvia Reimann


WELT AM SONNTAG: Was hat das mit Ihnen und Ihrem Leben gemacht?

Eckhardt: Ich war damals 47, das tödliche Attentat auf meinen Mann war eine Zäsur in meinem Leben. Ich habe immer wieder versucht, die belastenden Gedanken an die Tat auszulöschen. Es ist mir nicht ganz gelungen. Ich war verletzt, natürlich war ich auch verunsichert die ersten Jahre. Viele in meinem Umfeld konnten mit meiner Trauer nur schwer umgehen. Ich wurde weniger eingeladen, manche distanzierten sich. Die ersten Jahre bin ich alleine verreist und habe mich schrecklich gefühlt. Manchmal blieb ich im Hotelzimmer, habe auf das Bild von Hans auf dem Nachttisch geschaut, das ich immer aufstellte, und wollte nur weglaufen.

WELT AM SONNTAG: Gab es etwas, das Ihnen Trost und Halt gegeben hat?

Eckhardt: Man lernt, mit dem Alleinsein umzugehen. Ich fing nach kurzer Unterbrechung wieder an zu arbeiten, zuerst beim Deutschen Evangelischen Missionsrat. Das gab meinem Tag Struktur, der Chef kümmerte sich sehr um mich und hatte viel Verständnis. Es war eine schöne Zeit. Und gut für mich.

WELT AM SONNTAG: Ihr Mann reiste gerne – und Sie mit ihm. Zog es Sie noch in die Ferne?

Eckhardt: Ja. Fünfmal bin ich in die USA gereist. Dreimal mit großen Studiengruppen, zweimal privat. Ich war in Texas, habe dort Freunde von Hans besucht, die auch Briefmarken gesammelt haben. Mein Mann hat in vielen Ecken seine Spuren hinterlassen. Die Wärme der Amerikaner gefällt mir, die Freundlichkeit der Menschen hat mir sehr gut getan. Lange Jahre habe ich noch das „Texas Travel Magazine“ abonniert. Und mit 72 Jahren zog ich 1996 von Hamburg nach Mülheim an der Ruhr. Ich hatte jemanden kennengelernt.

Witwe Annemarie Eckhardt in ihrem Heim in Mülheim an der Ruhr
Quelle: Silvia Reimann

WELT AM SONNTAG: Ein neuer Mann in Ihrem Leben?

Eckhardt: Er hieß Fritz. Ich traf ihn auf einer Reise in Meran, und wir verstanden uns gleich gut. Er war Witwer. Fritz wurde mein Lebensgefährte, mein Partner. Wir verreisten viel, oft nach Südtirol, nach Bad Wiessee am Tegernsee oder in den Süden. Wegen ihm habe ich Hamburg verlassen. Er lebte in einem Haus mit einem schönen Garten. Dort bin ich allerdings nicht eingezogen.

WELT AM SONNTAG: Warum?

Eckhardt: Ich wollte meinen eigenen Bereich behalten und zog lieber in eine kleine Wohnung ganz in der Nähe von dem Haus. Direkt hinter meiner Wohnung grenzte ein kleines Wäldchen an. Es waren gute Jahre.

Für den Mord an Hans Eckhardt verurteilte ein Gericht Manfred Grashof 1977, fünf Jahre nach der Tat, zu lebenslanger Haft. Der Prozess fand in Kaiserslautern statt, verhandelt wurden mehrere bundesweit begangene Straftaten – darunter Banküberfälle in Ludwigshafen und Kaiserslautern, bei dem ein junger Polizist erschossen wurde, ebenso wie der Mord an Hans Eckhardt.

September 1975: Die Angeklagten (von links) Wolfgang Grundmann, Manfred Grashof und Klaus Jünschke verlassen nach dem ersten Verhandlungstag das Gerichtsgebäude in Kaiserslautern
September 1975: Die Angeklagten (von links) Wolfgang Grundmann, Manfred Grashof und Klaus Jünschke verlassen nach dem ersten Verhandlungstag das Gerichtsgebäude in KaiserslauternQuelle: picture-alliance/dpa


Wolfgang Grundmann, der RAF-Mann, der an jenem Abend in Hamburg nicht auf Eckhardt geschossen hatte, wurde in wesentlichen Anklagepunkten freigesprochen. Das Gericht verurteilte ihn nur wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu vier Jahren Gefängnis, Grundmann distanzierte sich noch in der Haft von der RAF. 2016 trat er für die SPD im hessischen Kommunalwahlkampf an und wurde in einen Ortsbeirat in Marburg gewählt.

WELT AM SONNTAG: Manfred Grashof, der Ihren Mann getötet hatte, wurde 16 Jahre nach der Tat begnadigt. Der damalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel, entschied es so. Wie haben Sie davon erfahren, wie war das für Sie?

Eckhardt: Ich fand einen einfachen Zettel in meinem Briefkasten, ich solle bei der Staatskanzlei in Mainz anrufen. Das habe ich dann an die ehemalige Dienststelle meines Mannes weitergereicht, ein Beamter informierte sich und teilte mir mit: Der Grashof wird früher entlassen. Er war da schon seit Jahren Freigänger gewesen.

WELT AM SONNTAG: Das heißt, Ministerpräsident Vogel hatte sich nicht bei Ihnen gemeldet, bevor er die Begnadigung öffentlich bekannt gab?

Eckhardt: Nein, das hat er nicht. Obwohl er öffentlich behauptet hatte, vor Begnadigungen von RAF-Mitgliedern immer mit den Angehörigen in Kontakt zu treten. Da habe ich mich klein gefühlt, nicht wahrgenommen als Angehörige eines einfachen Polizisten. Ich finde, man hätte mich über die frühzeitige Entlassung vorab informieren sollen. Das hat natürlich auch eine Wirkung auf mich gehabt.

WELT AM SONNTAG: Es gab noch etwas, das im Nachhinein merkwürdig wirkt: das Datum, an dem Grashof aus der Haft entlassen wurde.

Eckhardt: Die Behörden entließen den Mörder meines Mannes am 2. März 1989 in die Freiheit. Auf den Tag genau 17 Jahre nach den Schüssen, an denen Hans später starb. Ich habe noch versucht, mithilfe eines Anwalts dagegen vorzugehen, aber ohne Erfolg. Das war dermaßen unsensibel, das hätte nicht nötig getan.

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Über die Begnadigung von RAF-Mitgliedern entbrannten immer wieder gesellschaftliche Debatten. Viele Politiker, vor allem der CDU, kritisierten die fehlende Reue der Inhaftierten, die zumeist sehr lange Haftstrafen verbüßten, und bemängelten, dass diese keine Aussagen zu ungeklärten Morden machten. Noch im Jahr 2007 weigerte sich der damalige Bundespräsident Horst Köhler, den verurteilten Mörder und Terroristen Christian Klar zu begnadigen. Er saß zu dieser Zeit 24 Jahre im Gefängnis.

Im Dezember 2008 kam Klar schließlich nach einer Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart frei. Eine Reihe früherer Bundespräsidenten übte aber ihr Gnadenrecht gegenüber Angehörigen der Rote-Armee-Fraktion auch aus. Richard von Weizsäcker begnadigte in drei Fällen, Roman Herzog etwa entließ 1998 Helmut Pohl nach mehr als 20 Jahren Haft. Bernhard Vogel, Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, hatte vor Manfred Grashof im Jahr 1988 Klaus Jünschke freigelassen, auch er war Mitglied der RAF.

Ein RAF-Fahndungsplakat aus den 1970er-Jahren
Ein RAF-Fahndungsplakat aus den 1970er-JahrenQuelle: picture alliance/dpa


Das Jahr 1992 war schließlich eine Zäsur für den staatlichen Umgang mit der Terrorgruppe. Justizminister Klaus Kinkel erklärte, man müsse verurteilte RAF-Täter unter bestimmten Umständen vorzeitig entlassen. Die Gruppe forderte er zum Gewaltverzicht auf.

Diese Initiative führte innerhalb der RAF-Gefangenen zu einer Spaltung. Einige wie Brigitte Mohnhaupt lehnten jede Annäherung ab. Andere Inhaftierte wie Lutz Taufer und Karl-Heinz Dellwo setzten auf die Initiative und erklärten, sie würden nach ihrer Entlassung den bewaffneten Kampf nicht mehr fortsetzen.

Am 20. April 1998 ging bei der Nachrichtenagentur Reuters ein achtseitiges Schreiben ein, in dem die RAF ihre Selbstauflösung verkündete. Darin hieß es: „Vor fast 28 Jahren, am 14. Mai 1970, entstand in einer Befreiungsaktion die RAF. Heute beenden wir dieses Projekt. Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nun Geschichte.“ Am Ende des Schreibens werden die Toten aus den Reihen der Terroristen aufgelistet. Die Namen ihrer Opfer tauchen nirgends auf.

WELT AM SONNTAG: Hatten Sie je das Bedürfnis, mit dem Mörder Ihres Mannes in Kontakt zu treten: zum Beispiel um zu erfahren, ob er Reue empfindet?

Eckhardt: Ich habe und hätte keinerlei Bedürfnis, mit diesem Menschen zu reden. Der Schmerz ist viel größer als jeder Zorn, den ich hatte.

WELT AM SONNTAG: Die Mehrzahl der 34 Menschen, die die RAF getötet hat, stand nicht in der Öffentlichkeit und hatte keine politisch wichtige Funktion. Sie waren Soldaten, Fahrer, Polizeibeamte – wie Ihr Mann. Hat die deutsche Gesellschaft es geschafft, auch sie im Gedächtnis zu behalten?

Eckhardt: Viele sind vergessen worden. Ich war 2007 bei einer Trauerfeier der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung in Berlin, da habe ich zumindest mal das Gefühl gehabt: Es wird sich an uns erinnert. Ich finde aber, dass der Umgang mit der RAF nicht richtig in unserem Bewusstsein verankert ist. Ich habe viele Menschen getroffen, die sich kaum für die Folgen der Taten interessieren.

Grab von Kommissar Hans Eckhardt, Hamburg Ohlsdorf
Grab von Kommissar Hans Eckhardt, Hamburg OhlsdorfQuelle: Von Wollensen - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=91915442


WELT AM SONNTAG: Der 11. März ist ab sofort ein nationaler Gedenktag für Opfer terroristischer Gewalt, das hat die neue Bundesregierung beschlossen. Was halten Sie davon?

Eckhardt: Grundsätzlich ist es gut, die Angehörigen zu würdigen. Nach meinem Gefühl interessieren sich die Menschen nicht besonders für Angehörige. Das ist aus meiner Sicht ein Kennzeichen der Moderne: Die Menschen sind sehr mit sich selbst befasst. Für mich kommt er in jedem Fall leider etwas spät. Ich habe mich alleine durchgeschlagen.

WELT AM SONNTAG: Ihr Mann liegt auf dem großen Parkfriedhof in Hamburg. Können Sie dort noch hinfahren?

Eckhardt: Ich bin 2018 ein letztes Mal in Hamburg gewesen, in meinem Alter reise ich nicht mehr gerne. Wir waren im Hafen, an meiner alten Wohnung, und ich bin auch zu seinem Grab gegangen. Er wurde auf meine Bitte hin vor einigen Jahren umgebettet und liegt nun in der Gedenkstätte der Polizei. Dort sind alle Polizisten bestattet, die im letzten Jahrhundert im Dienst ums Leben kamen. Es gibt nichts Schöneres, als über den Ohlsdorfer Friedhof zu laufen, wenn die Rhododendren blühen, ein Meer aus Blüten. Ich werde eines Tages dort im Grab neben ihm liegen.

WELT AM SONNTAG: Was an Ihrem Mann ist Ihnen in all den Jahren besonders in Erinnerung geblieben?

Eckhardt: Er war sehr aufmerksam und angenehm, konnte mit allen Leuten reden. Desto schmerzlicher war es, dass es nicht weiterging. Hans hat mir neue Welten geöffnet, das muss ich sagen.

Wie die Geschichte entstand: Unser Reporter hat eine familiäre Verbindung zu Annemarie Eckhardt, sie ist die Cousine seiner verstorbenen Großmutter. Für das Interview in Mülheim trafen sich beide allerdings zum ersten Mal. Die für Interviews in Deutschland übliche Autorisierung, also die Möglichkeit des Interviewpartners, vor Erscheinung seine Zitate gegenzulesen, fand dann auf eher traditionellem Weg statt: per Post.

Das Kondolenzschreiben von Helmut Schmidt, damals Verteidigungsminister, an die Familie Eckhardt
Das Kondolenzschreiben von Helmut Schmidt, damals Verteidigungsminister, an die Familie EckhardtQuelle: Silvia Reimann