Ahmet S. lächelt. Schüttelt den Kopf. Schaut zu Boden, grinst, blickt wieder hoch, legt den Kopf zur Seite, betrachtet das Video, das der Richter gerade zeigt. Zu sehen sind die Bilder seiner Festnahme am 21. Oktober 2023, die Fesselung, seine Schreie, die Fixierung am Boden. Dann sagt der 21-jährige Angeklagte: „Das war Polizeigewalt.“
Er sei das Opfer hier, soll das wohl heißen. Den Film hat ein Freund mit der Handy-Kamera aufgenommen. Was der nicht gefilmt hat: Wie sein Kumpel Ahmet S. vorher antisemitische Parolen gerufen haben soll. „Scheißjuden!“ und „Ich ficke alle Juden!“, soll S. Teilnehmer einer Mahnwache für Israel der Anklage zufolge angeschrien haben. Die zeigten nach dem Terroranschlag des 7. Oktober in der Hamburger Innenstadt Solidarität mit den Hamas-Geiseln und dem überfallenen Land.
Es musste wohl aus Ahmet S. heraus, was er in seinem Kopf dachte, doch im Amtsgericht Hamburg bestreitet der junge Mann, so etwas gesagt zu haben. „Das stimmt alles nicht“, sagt er.
Doch der Demonstrationsteilnehmer Andreas N. kann sich noch genau an die Szene erinnern. „Er stand genau vor mir und schrie ,Scheißjuden‘“, sagt der 69-jährige Zeuge. „Was solche Leute eben so sagen.“
Die Amtsgerichte in Deutschland haben in diesen Wochen viel zu tun, um solche Judenhasser-Fälle abzuarbeiten. Seit dem 7. Oktober, als die Hamas Israel überfiel, Tausende Menschen ermordete, verstümmelte und vergewaltigte, Hunderte Geiseln nahm und ihrem ungebremsten Hass auf den jüdischen Staat freien Lauf ließ, fühlen sich auch hierzulande Leute ermuntert, endlich einmal öffentlich zu sagen, was sie von Juden halten.
Das Bundeskriminalamt teilte Ende Mai mit, dass antisemitische Straftaten mit 5164 Delikten, davon 148 Gewalttaten, im vergangenen Jahr einen neuen Höchststand erreicht hätten. Der massive Anstieg (2022 kam es 2641 Taten, davon 88 Gewalttaten) sei vor allem auf den Anstieg nach dem 7. Oktober 2023 zurückzuführen, heißt es. Im ersten Quartal dieses Jahres kam es schon zu 793 antisemitischen Straftaten. Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias) zählte in den Wochen nach dem Hamas-Massaker 39 antisemitische Vorfälle in Deutschland pro Tag.
Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, sagte, viele Jüdinnen und Juden würden sich aus Angst nicht mehr als solche in der Öffentlichkeit zu erkennen geben. Die BKA-Zahlen seien eine „große und mentale Belastung“. Und Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, forderte, dass „Staat und Gesellschaft keine Räume zulassen dürfen, in denen Judenhass unwidersprochen“ bleibe.
Zumindest in einem Fall, der ebenfalls Ende Mai in Hamburg verhandelt wurde, scheint Kleins Wunsch erfüllt worden zu sein.
„Ich habe nix gegen Juden“, behauptet Cetin D.
Vor dem Amtsgericht St. Georg trat dort an einem Dienstag Ende Mai Cetin D. auf, angeklagt wegen Beleidigung und Volksverhetzung. Der 21-Jährige grölte betrunken an einem frühen Sonntagmorgen Parolen wie „Ihr Scheißjuden“ und „Ich ficke alle Juden“ sowie „Palästina ist im Recht“.
Cetin D. hat bereits mehrere Vorstrafen wegen Diebstahls und Körperverletzung, keine abgeschlossene Berufsausbildung und keinen Job. Er sitzt ohne Anwalt am Tisch und sagt, dass er sich an „nichts erinnern“ könne – leider. Auf den Aufnahmen der S-Bahn ist Cetin D. zu sehen: Er läuft durch den Waggon, sein Gesicht ist verzerrt, er scheint zu brüllen.
An einem frühen Sonntagmorgen dürfte eine bunte Mischung von Nachtvögeln zwischen den Stationen Reeperbahn und Hauptbahnhof im Zug sitzen. Doch einem jungen Mann ist es nicht egal, wie Cetin D. sich verhält. Er ruft, selbst angeheitert, die Polizei an – und die fischt den betrunkenen Gröler aus der Bahn. Die Polizisten haben die Bodycams eingeschaltet, und als der Richter die Aufnahmen im Saal abspielt, wiederholt der Mann im Film die Hass-Parolen vor den Beamten.
Zu leugnen ist hier nichts. Aber der Angeklagte sagt immer, „weiß ich nicht“ und „erinnere mich nicht“. Er wolle sich entschuldigen, sagt Cetin D. Er sei „eigentlich gar nicht so ein Mensch, der so etwas macht“.
Der Staatsanwalt fragt ihn, wie es dazu kam. „Ich habe nix gegen Juden“, behauptet der Angeklagte. Aber warum habe er dann solche Parolen geschrien, will der Anklagevertreter wissen. Cetin D. zuckt mit den Schultern. Es tue ihm leid, sagt er.
Wie bestraft der Staat so einen Menschen? Der Vertreter der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft fragt sich das auch. „Der Angeklagte steht am Scheideweg. Es ist schwierig, eine angemessene Rechtsfolge zu finden“, sagt er – und fordert eine Geldstrafe in Höhe von 1120 Euro, die in Raten von 30 Euro pro Monat abgezahlt werden können. Die brummt der Richter Cetin D. dann auch auf.
Die Erklärungen eines Imams
Judenfeindschaft spielt sich aber auch in gebildeten Kreisen ab. In München zog am Montag der Imam Mohamed Ibrahim seinen Einspruch gegen einen Strafbefehl zurück, der ihn wegen Billigung von Straftaten zu einer Geldstrafe in Höhe von 4500 Euro verdonnerte. Hintergrund ist ein Facebook-Post vom 7. Oktober 2023, dem Tag des Angriffs der Hamas auf Israel. Damals hatte er geschrieben: „Jeder hat seine eigene Art, den Oktober zu feiern.“ Dahinter hatte er einen Smiley gesetzt.
„Dadurch brachten Sie zum Ausdruck, dass Sie den Mord und die Geiselnahmen der Hamas in hundertfachen Fällen guthießen, dass der Terrorangriff jedenfalls für manche Personen einen Anlass zum Feiern darstellt“, hieß es in dem Strafbefehl, den der Antisemitismusbeauftragte der bayerischen Justiz, Andreas Franck, vor Gericht verlas.
Aber nein, mit Antisemitismus habe das rein gar nichts zu tun, beteuerte der muslimische Geistliche. Er habe diesen Post mittags verfasst und zu dem Zeitpunkt nur gehört, „dass es dem palästinensischen Widerstand gelungen sei, gegen Israel einen Erfolg zu erzielen“. Er sei davon ausgegangen, dass es sich um eine rein militärische Aktion handle und „dass die Palästinenser versuchen, zu ihren Rechten zu kommen“. Es gebe „viele Gruppen in Palästina, die Widerstand leisten“. „Wenn Besatzung da ist, darf man gegen die Besatzung vorgehen“, betonte Ibrahim und zog eine Parallele zu dem Recht der Ukraine, sich gegen Russland zu verteidigen.
Zu weiteren Missverständnissen wollte es Ibrahim lieber nicht kommen lassen und zog im Gericht seinen Einspruch gegen den Strafbefehl zurück. Er darf seit November nach einer einmonatigen Suspendierung wieder in seiner Moschee predigen.
Beim Hamburger Ahmet S. gelingt die Wahrheitsfindung nicht so schnell: Der Prozess wird am 20. Juni mit weiteren Zeugenvernehmungen fortgesetzt. Ob er den erhofften Freispruch bekommt, ist bei den vielen Zeugen der Anklage fraglich. Der Staatsanwalt drückt es gegenüber dem Angeklagten so aus: „Was Sie sagen, ist völlig unglaubwürdig.“