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Literatur Italo Calvino

Ein Wahlsonntag im Irrenhaus

„Ich habe gesehen, was Rassismus ist“: Italo Calvino „Ich habe gesehen, was Rassismus ist“: Italo Calvino
Novellle über das „legge truffa“: Italo Calvino
Quelle: picture alliance / Farabola/leem
Bei den italienischen Wahlen 1953 ging es ums Ganze. Der Meistererzähler Italo Calvino schickte zehn Jahre später einen Kommunisten als Wahlprüfer ins „Cottolengo“, eine riesige, katholische Pflegeeinrichtung in Turin. Denn auf jedem Kreuz, das hier gemacht wird, lastet ein schrecklicher Verdacht.

Turin 1953, Wahlsonntag, halb sechs Uhr morgens. „Bei der Opposition (Amerigo Ormea gehörte einer Linkspartei an) galt ein verregneter Wahltag als gutes Vorzeichen“, liest man zu Beginn von Italo Calvinos Erzählung „Der Tag eines Wahlhelfers“ von 1963. Die Linke hofft „dass bei schlechtem Wetter viele christdemokratische Wähler – solche, die sich wenig um Politik kümmerten oder gebrechliche alte Leute oder Menschen vom Lande, wo die Straßen schlecht sind – keinen Fuß vor die Tür setzen“. Amerigo weiß es besser: Die Regierungspartei wird noch dem letzten ihrer Anhänger den Urnengang ermöglichen.

Deshalb ist er so früh unterwegs, ins „Cottolengo“, eine riesige, katholische Anstalt für geistig und körperlich Behinderte, „Idioten“, wie der Erzähler sie nennt, eine Stadt in der Stadt. Auch hier wird gewählt. Amerigo soll, wie Vertreter anderer Parteien auch, überprüfen, ob alles mit rechten Dingen zugeht (der „Scruatore“ in Calvinos Originaltitel kommt dem deutschen „Prüfer“ am nächsten). Es besteht der Verdacht, dass Patienten, die zwar auf den Wahllisten stehen, aber oft kaum einen Stift halten können, manipuliert werden. Kirche und Regierungspartei sind eng verbandelt.

Das „Cottolengo“ gibt es. 1953 wurde auch gewählt in Italien. Es ging ums Ganze. Ein als legge truffa, „Schwindelgesetz“ verschrienes neues Gesetz sah vor, dass eine Partei, die nur eine Stimme mehr als 50 Prozent erhielt, mit einer Zweidrittelmehrheit regieren könnte – für die Christdemokraten 1953 zum Greifen nah. Wovon Calvino ein Jahrzehnt später erzählt, hat mehr als einen Realitätskern und – Spoiler – 1953 wurde das legge truffa knapp verhindert. Der vergrübelte Kommunist Amerigo ist erfunden. Doch dass er Amerigo heißt wie Amerikas Namenspatron, während der auf Kuba geborene Calvino den Vornamen Italo trug, zeigt, dass viel los ist zwischen Autor und Protagonist. Im Jahrzehnt von 1953 bis 1963 auch: die brutale Niederschlagung des ungarischen Aufstands 1956 durch die Sowjets etwa, für den Resistenza-Veteranen Calvino ein Grund, aus der Partei auszutreten.

Tatsächlich ist es bei manchem, der im „Cottolegno“ an die Urne geschoben oder getragen wird, fraglich, ob er sein Kreuz aus freien Stücken macht. Noch fraglicher wird das, je tiefer Amerigo der „Nebenwahlstelle“ durch die Anstalt folgt: ein fremder Kontinent. Dass der Wahlhelfer bei den härtesten Fällen einschreitet und der Widerstand der Nonnen und Priester dagegen erstaunlich gering ist, wird zweitrangig gegenüber dem, was Amerigo hier sieht. Die Frage nach demokratischer Teilhabe wird ihm so zu einer Frage nach der menschlichen, denn „das Menschliche reicht so weit, wie die Liebe reicht; es kennt keine Grenzen, wenn nicht die, die wir ihm setzen.“ Eine Einsicht, die kein schlechter Grund ist für die Calvino-Lektüre im globalen Superwahljahr 2024, und damit auch zur Europawahl.

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