Jede italienische Stadt kennt eine „Via XXV. Aprile“. Die Straße des 25. April ist im Belpaese so omnipräsent wie die Via Roma, der Corso Garibaldi oder die Piazza Matteotti. Der 25. April ist einer der beiden Staatsfeiertage in Italien und erinnert an die Befreiung vom Faschismus und das Ende des Zweiten Weltkriegs.
Zum diesjährigen 25. April hätte der italienische Schriftsteller Antonio Scurati in einer Sendung des staatlichen italienischen Fernsehsender RAI über den 25. April sprechen sollen. Hätte. Doch der Auftritt wurde kurzfristig abgesagt, angeblich wegen der überhöhten Gage Scuratis. Realiter wohl wegen des Inhalts. In Scuratis kurzer Rede, die trotz des abgesagten Auftrittes publik wurde, weil sie im Fernsehen durch eine Journalistin vorgetragen sowie in Zeitungen des In- und Auslandes nachgedruckt wurde, geht der Schriftsteller mit der Erinnerungskultur der Regierung Meloni ins Gericht.
Die Postfaschisten, die die Wahlen im Oktober 2022 gewonnen haben, hätten „zwei Möglichkeiten“: „ihrer faschistischen Vergangenheit abzuschwören oder die Geschichte umzuschreiben. Sie haben zweifelsfrei den zweiten Weg gewählt.“ Die Regierung dieser Ministerpräsidentin, so Scurati, mache keine Anstalten, sich von der ideologischen Linie ihrer postfaschistischen Herkunft zu distanzieren. Der Ausdruck ‚Antifaschismus‘ werde dieser Ministerpräsidentin wohl nicht einmal an einem 25. April über die Lippen kommen, so Scurati sinngemäß. Und wörtlich (auf Deutsch nachlesen kann man seine Rede in der „Süddeutschen Zeitung“): „Bis dieses Wort – Antifaschismus – nicht von denen ausgesprochen wird, die uns regieren, wird das Spektrum des Faschismus weiterhin die italienische Demokratie heimsuchen.“
Antonio Scurati über den Faschismus
Nun spukt für deutsche Ohren ein bisschen viel Faschismus mit Präfixen durch die Rhetorik – und wer ist überhaupt Scurati? Scurati hat sich einen Namen gemacht durch seinen mehrbändigen Dokumentarroman „M“ zur Mussolini-Zeit, im Herbst erscheint der inzwischen vierte Teil auf Deutsch. Dass die jeweils ziegelsteindicken Bände in Scuratis Heimat Furore machen, hat auch damit zu tun, dass Italiens Verhältnis zur faschistischen Vergangenheit kompliziert ist. „Italien hat – anders als Deutschland – seine Vergangenheit nie breitenwirksam aufgearbeitet. Dabei war Italien die Wiege des Faschismus, von hier aus fand die Bewegung Nachahmer in der ganzen Welt“, sagte Scurati vor einigen Jahren im WELT-Interview.
Das können sich Deutsche, die den Nationalsozialismus dreimal in der Schule durchnehmen und seit Jahrzehnten ritualisierte staatliche Reden und Gesten zur Vergangenheitsbewältigung kennen, schwer vorstellen. Doch in Deutschland war und ist die Schuldfrage eben immer eindeutig gewesen – im Unterschied zu Italien, das im Zweiten Weltkrieg die Seiten gewechselt hat, und zwar sowohl von offizieller, königlicher Seite als auch durch die Resistenza, die später stilisiert wurde: Plötzlich waren quasi alle Antifaschisten und Widerstandskämpfer. Die ganze Idee der italienischen Nachkriegsrepublik basiert auf dieser Erzählung. Italienischer Antifaschismus hat insofern auch nichts mit deutscher Antifa-Subkultur zu tun; er war jahrzehntelang Staatsdoktrin wie in der DDR – so wie Italien zu Zeiten des Kalten Krieges auch das Land mit der größten Kommunistischen Partei in der westlichen Hemisphäre war.
Nichtsdestotrotz waren Postfaschisten unterschiedlichster Couleur, ja sogar Mussolini-Nachkommen in der italienischen Politik immer präsent und in einer Weise da, wie es für deutsche Rechtsextreme oder Neonazis undenkbar gewesen wäre. Das über dem Gardasee gelegene Anwesen von Gabriele D’Annunzio – dem Schriftsteller, der mit seiner Kommune in Fiume 1919 den Faschismus erfunden hat – wird noch heute rein hagiografisch präsentiert. Man kann an italienischen Kiosken „Führerwein“ und andere Devotionalien kaufen.
Dass in Italien mit den Fratelli d’Italia (zu Deutsch: Brüder Italiens) unter Führung von Giorgia Meloni eine sogenannte postfaschistische Partei regiert, hat in Deutschland viele beunruhigt, doch generell hat das italienische Wahlvolk ein pragmatisches, von Haus aus desillusioniertes Verhältnis zur Politik – musste es sich auch zulegen, bei 68 kurzlebigen und kurzlebigsten Nachkriegsregierungen zwischen 1946 und 2022. Vor Meloni regierte zuletzt ein völlig absurdes postpolitisches Bündnis aus Links- und Rechtspopulisten. Meloni kam an die Macht, weil sie bis dato noch nicht regiert hatte – nicht, weil sie aus speziell postfaschistischen oder gar feministischen Motiven gewählt worden wäre. Meloni macht außenpolitisch keine unkluge Figur, sie ist – anders als andere Rechtsnationale in Europa es sind – pro Ukraine und nicht pro Putin. Sie vertritt ein konservatives Familienbild, das, da es im katholischen Italien keine Christdemokratie mehr gibt (und da Berlusconis im Geiste eines Fußballclubs gegründete Ersatzpartei „Forza Italia“ bald Geschichte sein dürfte) eine Repräsentationslücke hatte und hat. Das alles ist kein Problem.
Das kulturelle Problem der Fratelli d’Italia entblößt sich in zwei neuralgischen Punkten. Zum einen in der Wut auf die Hegemonie der Linken in der tonangebenden Kultur- und Medienbranche. Die Wut ist berechtigt, die Frage aber ist: Kann man Kritik an Hegemonie mit dem Versuch eigener Hegemonie beantworten? Sichert man sich seine Macht, indem man die Produktionsmittel der veröffentlichten Meinung selbst besetzt? Der italienischen Regierungschefin wird vorgeworfen, in der Anstalt RAI bereits viele wichtige Positionen mit ihren Vertrauensleuten besetzt zu haben. Das wäre das polnische und ungarische Prinzip. Hinter all dem steht das Hegemonie-Motto des Marxisten Gramsci: Man muss den vorpolitischen Raum erobern, um politische Macht zu sichern.
Und hier kommt der zweite wunde Punkt der Meloni-Regierung ins Spiel, für den Schriftsteller Scurati wohl der entscheidende: Die Nicht-Existenz eines kritischen Gedenkens an die Mussolini-Ära, Diskurs-Stichwort „Es war nicht alles schlecht.“ Der öffentliche Eindruck, dass überhaupt etwas schlecht war an dieser Epoche, die ein totalitärer Terrorstaat war, droht zu schwinden und gewollt in Vergessenheit zu geraten. Scurati hat hier einen Punkt.
Zwar muss es verwundern, dass ausgerechnet dieser kluge Schriftsteller von Meloni rhetorische Antifaschismus-Lippenbekenntnisse einfordert. Das umgekehrte Buzzwording hat er im WELT-Interview vor einigen Jahren noch selbst kritisiert: „Wenn alles, was einer ausgestellten moralischen Überlegenheit der Linken nicht ins Weltbild passt, faschistisch genannt wird, besteht die Gefahr, das, was wirklich Faschismus genannt werden muss, zu verharmlosen.“
Doch genau hier greift Scuratis Argument. Die Fratelli d’Italia haben ein ungeklärtes Verhältnis zur faschistischen Vergangenheit. In Sachen Vergangenheitsbewältigung befindet sich Italien in Teilen noch heute in der Ära des kommunikativen Beschweigens, die in Deutschland in den 1980er- und 1990er-Jahren zu Ende ging. Deren Konsens wird inzwischen aber auch hierzulande wieder deutlicher aufgekündigt, von einer Partei, die eine erinnerungspolitische 180-Grad-Wende fordert. Insofern sollten wir uns nicht zu selbstgewiss über italienische Verhältnisse erheben.