„Möchten Sie selbst auf Bäumen leben?“ Der Schriftsteller lächelt, als er das gefragt wird. Leicht versonnen, aber natürlich auch ein bisschen kokett, antwortet er: „Kann sein, dass ich dort oben schon lebe.“ Frage des Reporters: „Auf den Bäumen?“ Italo Calvino: „Ja.“ Mit dieser Szene beginnt ein tolles Porträt, das jetzt – zum 100. Geburtstag des Schriftstellers – bei Arte zu sehen ist und in dem man erfährt, dass Calvino in einem Haus in Sanremo, Ligurien, aufgewachsen ist, an das ein botanischer Garten mit Arboretum angeschlossen war.
Italo Calvino (geboren am 15. Oktober 1923, gestorben am 19. September 1985) ist ein Klassiker der italienischen Literatur. Es gibt ein wunderbares Foto von ihm. Man sieht ihn 1979 in einem schattigen Park sitzen, angelehnt an einen Baumstamm, der Rinde nach eine Pinie. Und er strahlt diese noble sprezzatura aus, die man als Mann in Espadrilles nur im Süden haben kann. Der Baron unter den Bäumen.
Natürlich ist ein solcher Pinienhain, der in jedem olfaktorischen Italiensommer-Gedächtnis intensiv nach Harz duftet, der idealtypische Ort, um Calvinos berühmtesten Roman zu lesen: „Der Baron auf den Bäumen“. Der internationale Klassiker, im Original 1957 unter dem Titel „Il Barone rampante“ erschienen, erzählt von einem jungen Mann. Kurz davor, ein Teenager zu werden, flüchtet er aus seinem strengen Elternhaus auf einen Baum, um fortan sein ganzes Leben auf den Bäumen von Ligurien zu verbringen:
„Es war der 15. Juni 1767, als Cosimo Piovasco di Rondò, mein Bruder, zum letzten Male in unserer Mitte saß. Wir befanden uns im Speisesaal unserer Villa in Ombrosa; die dichten Zweige der großen Steineiche des Parks umrahmten die Fenster. Es war Mittag, und unsere Familie saß, altem Herkommen gemäß, zu dieser Stunde bei Tische …. Der Wind wehte vom Meer her, das weiß ich noch, und die Blätter bewegten sich. Cosimo erklärte: ‚Ich habe gesagt, dass ich nicht will, und ich will nicht!’ Dann stieß er den Teller mit den Schnecken zurück. Niemals hatte man ärgeren Ungehorsam erlebt.“
So beginnt der Roman (lieferbar bei S. Fischer). Und wenige Seiten später ist Cosimo für immer fort vom Tisch: „Bald danach sahen wir durchs Fenster, wie er die Steineiche hinaufkletterte. Unser Vater neigte sich aus dem Fenster heraus: ‚Wenn du das Sitzen da droben satt hast, wirst du es dir anders überlegen’, rief er ihm zu.“ Doch Cosimo hat das Leben auf den Bäumen nie mehr satt, er bleibt das ganze Buch und sein ganzes Figurenleben auf ihnen.
Die Geschichte hinter der Geschichte
Was nach einer anstrengenden Eigenbrötlerstory klingt, fasziniert durch die Chuzpe einer exzentrischen Märchenfigur, die sich freiwillig Distanz und Beschränkungen auferlegt, um aus der Überschau die gesellschaftlichen Dinge besser erkennen. Calvinos Buch ist eine wunderbare Parabel über den menschlichen Eigensinn, vielleicht auch über das Wesen der Schriftstellerei: „Der einzige Weg, um wirklich mit den anderen zu sein, ist der, sich von ihnen abzusondern.“ Italienische Literaturwissenschaftler in der oben erwähnten Arte-Doku lesen in dem „Baron“ heute eine Symbolfigur für Calvinos Ungehorsam und Abkehr von der Kommunistischen Partei Italiens, die den Einmarsch der Sowjetunion beim Ungarnaufstand 1956 zu Calvinos Schrecken gutgeheißen hatte. Seitdem hatte Calvino mit seiner Partei für immer gebrochen.
Calvino, der auf Kuba geboren wurde, wo sein Vater als Agronom tätig war, wuchs ab 1925 in Ligurien auf. Er war Partisanenkämpfer im Zweiten Weltkrieg und gehörte zum Kreis der antifaschistischen Intellektuellen von Turin. Als Lektor im Verlag Einaudi wurde er zu einer der wichtigsten Figuren im kulturellen Nachkriegsitalien. Sein eigenes Schreiben schlug, vom Neorealismo ausgehend, einen Weg ein, der immer postmoderner und verspielter wurde, ob in „Die unsichtbaren Städte“ (1972) oder in „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“ (1979). Der Baron auf den Bäumen, sein über den Dingen schwebender und die Welt mit Distanz sehender und ordnender Held, bleibt seine schönste Schöpfung.