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Warum dominierten Frauen die Rote Armee Fraktion?

Leitender Redakteur Geschichte
Verena Becker steht wegen des Buback-Attentats vor Gericht. Sie war eine von erstaunlich vielen Terroristinnen.

Der Schuss kommt unerwartet. Die Polizisten Uwe Jacobs und Wolfgang Seliger begleiten gerade ein junges Paar zu dessen Auto, um sich die Ausweise zeigen zu lassen. Zuvor waren die beiden in einem Café in der Singener Innenstadt einer älteren Dame verdächtig erschienen. Solche Kontrollen sind Anfang Mai 1977 Routine. Nur vier Wochen zuvor war Generalbundesanwalt Siegfried Buback einem Attentat in Karlsruhe zum Opfer gefallen.

Plötzlich zieht die junge Frau einen Revolver und schießt auf Jacobs. Durch Glück wird er nur am Arm getroffen; sein Kollege dagegen erleidet durch Schüsse des jungen Mannes schwerste Verletzungen. Die beiden Täter werden zehn Minuten später, nach weiteren Schusswechseln, von anderen Beamten festgenommen. Die Frau ist Verena Becker, 22 Jahre jung und schon ein führendes Mitglied der Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF).

Der "Spiegel" sprach von "Flintenweibern"

Ein Vierteljahr später klingelt es am 30. Juli 1977 gegen 17 Uhr am Haus von Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto in Oberursel bei Frankfurt. Susanne Albrecht, Tochter eines Bekannten der Pontos, hat ihren Besuch angekündigt. Mit zwei betont manierlich gekleideten Begleitern, einem jungen Paar, wird sie ins Haus gelassen. Wenig später fällt ein Schuss: Mit vorgehaltener Waffe will der junge Mann Ponto zum Mitkommen zwingen. Doch der resolute Banker weigert sich; ein Schuss fällt. Augenblicke später stürmt die Begleiterin von Susanne Albrecht aus dem Nachbarzimmer hinzu und schießt fünfmal auf Ponto; drei Kugeln verletzen ihn tödlich. Abgedrückt hat Brigitte Mohnhaupt, 28 Jahre alt und seit 1970 Mitglied der RAF.

Nach dem brutalen Überfall auf Ponto befand sich die Bundesrepublik im Zustand der Schockstarre. Das liegt an der ungeheuren Skrupellosigkeit, mit der gerade junge Frauen zuschlugen. Die "Frankfurter Rundschau" empfand "würgende Beklemmung"; der "Spiegel" fühlte sich an "Flintenweiber" erinnert; die "Welt" fragte sich, ob bald jeder Bürger gewahr sein müsse, dass ihm "der Tod in Gestalt eines jungen Mädchens gegenübertritt?".

Mehr als drei Jahrzehnte später beginnt am Mittwoch vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der wahrscheinlich letzte Prozess zum Terrorjahr 1977. Angeklagt ist Verena Becker wegen Mittäterschaft am Attentat auf Buback. Verurteilt worden ist sie bisher nur wegen des mehrfachen versuchten Mordes in Singen; von ihrer lebenslangen Haftstrafe hat sie zwölf Jahre abgesessen. Nun soll untersucht werden, ob ihr eine führende Rolle bei dem Anschlag von Karlsruhe nachgewiesen werden kann.

Auf den meisten Fahndungsplakaten aus den 70er- und 80er-Jahren waren mindestens die Hälfte der gesuchten Terroristen junge Frauen - wegen schwerer Straftaten wie Mord, Entführung oder Banküberfällen. Gewöhnlich gingen in den 70er-Jahren 85 bis 95 Prozent aller Gewaltverbrechen auf das Konto von Männern. Warum war das ausgerechnet bei vermeintlich linker politischer Kriminalität anders?

Bald machten die Feministinnen mobil

Schon bald nach den Erschütterungen des Jahres 1977 haben sich Feministinnen an dieses Thema gemacht. Sie waren aufgeschreckt durch oberflächliche Vermutungen, nach denen die weibliche Seite des RAF-Terrors ein "Exzess der Befreiung der Frau" sein könnte, wie der ehemalige Verfassungsschutzchef Günther Nollau vermutet hatte. Susanne von Paczensky, Herausgeberin der Rowohlt-Reihe "frauen aktuell", fragte sich: "Wie kommt es wirklich, dass Frauen Terroristinnen werden, aber nicht Ministerinnen und Gerichtsvorsitzende?" Die feministische Erklärung für das große Interesse der Öffentlichkeit an den weiblichen Gewalttätern freilich war ebenfalls mindestens holzschnittartig: "Die Terroristin verstößt gegen zwei Unterwerfungsgebote: das der Gesellschaftsordnung und das der patriarchalischen Ordnung", mutmaßte die italienische Journalistin Vanna Vannuccini 1978.

In der ersten Welle des Linksterrorismus in der Bundesrepublik Anfang der 70er-Jahre hatten noch abseitige "Erklärungen" für den hohen Anteil von Frauen vorgeherrscht. Einige Frauen seien aus sexueller "Hörigkeit" als "Gangsterbräute" in die Terrorgruppe geraten, andere wegen ihrer lesbischen Orientierung. Der eigentlichen Anführerin der RAF, Gudrun Ensslin, wurde attestiert, sie habe "noch männlicher" sein wollen als die Männer. Bei Ulrike Meinhof, der wortmächtigen Ex-Journalistin, mutmaßte man sogar, der Weg in den Terror könnte Folge ihrer Gehirnoperation von 1962 sein.

Schon die erste RAF-Generation wurde von Frauen dominiert

Schon die erste Generation der RAF wurde eindeutig von Frauen dominiert, vor allem von Gudrun Ensslin; Andreas Baader fiel vor allem durch seine cholerischen Ausbrüche auf. Auch die fast zeitgleich in West-Berlin entstandene Terrorgruppe "Bewegung 2. Juni" dominierten weibliche Mitglieder, vor allem Inge Viett, Gabriele Rollnik und Juliane Plambeck. Nach einem Zwischenspiel 1975/76 mit dem untergetauchten Baader-Verteidiger Siegfried Haag an der Spitze übernahm im Februar 1977 mit Brigitte Mohnhaupt wieder eine Frau die Leitung der Terrorgruppe. Sie war von Gudrun Ensslin persönlich als Anführerin designiert worden. Bis zu ihrer Festnahme 1982 war sie unbestritten die Befehlshaberin des deutschen Linksterrorismus.

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Allerdings brachte diese weibliche Dominanz neue Probleme hervor - jedenfalls bei der Zusammenarbeit mit nicht deutschen Terrorgruppen. Im Frühjahr 1978 hatte sich die Führung der RAF in einer Mailänder U-Bahn-Station mit Vertretern der "Roten Brigaden" verabredet. Erkennungszeichen sollte die intensive Lektüre eines Kriminalromans sein. Doch der Italiener, der die deutschen Genossen hatte abholen sollen, kehrte allein zurück. "Die haben uns einen Korb gegeben", teilte er seinen Kameraden mit: "Da waren ein Haufen Leute, aber niemand, der einem Deutschen ähnlich sah. Mit einem Krimi waren da nur junge Frauen." Der Italiener hatte, wohl aus Machismo, die beiden RAF-Vertreterinnen nicht ernst genommen. Offenbar handelte es sich um Mohnhaupt und Sieglinde Hofmann.

Von der dritten Generation ist wenig bekannt

Über die inneren Verhältnisse der dritten RAF-Generation ist noch weniger bekannt als über ihre Vorgänger; keiner ihrer Anschläge zwischen 1984 und 1993 ist auch ansatzweise aufgeklärt. Höchstwahrscheinlich gehörten mit Eva Haule und Birgit Hogefeld mindestens zwei Frauen zum engsten Führungskreis. Da beide RAF-typisch nie konkret über ihre Rolle ausgesagt haben, wurden sie in Indizienprozessen verurteilt. Haule kam 2007 nach 21 Jahren Haft frei, Hogefeld ist gegenwärtig die letzte Terroristin, die inhaftiert ist - inzwischen im offenen Vollzug.

"Dass Frauen Bomben legten, Polizisten erschossen und mit Maschinenpistolen Banken ausraubten, war ein Novum", sagt der Terrorismus-Experte Butz Peters. Der Jurist und Autor der wohl besten Gesamtgeschichte der RAF ("Tödlicher Irrtum". Fischer-Verlag, 863 S., 12,95 Euro) stellt aber klar: "RAF und Feminismus haben so gut wie nichts miteinander zu tun - weder unter dem Gesichtspunkt der Ziele noch dem der Ideologie."

Es ging um schnelle Emanzipation

Entgegen verbreiteten Gerüchten hat die bundesdeutsche Justiz die Terroristen nicht nur insgesamt moderat behandelt, zeitweise sogar ausgesprochen privilegiert. Auch bei den Verfahren gegen Terroristinnen spielte ihr Geschlecht eine geringe Rolle. Das ist das Ergebnis der Bielefelder Historikerin Gisela Diewald-Kerkmann in ihrer Habilitationsschrift "Frauen, Terrorismus und Justiz" (Droste Verlag, 363 S., 42 Euro). Über weite Strecken wertet sie sachlich die Aktenberge aus, die sich in Verfahren gegen 41 Terroristinnen zwischen 1971 und 1984 angesammelt haben. Zwar kann sich Diewald-Kerkmann nicht von den noch immer von Linken verbreiteten Mythen lösen, etwa über die vermeintlich schlechten Haftbedingungen von RAF-Gefangenen. Gleichzeitig aber fasst sie korrekt die Argumentation der Gerichte zusammen. In den meisten Verfahren kamen die Richter zu dem Schluss, dass Männer und Frauen auf den gleichen Wegen in den Terrorismus abgerutscht waren: als Radikalisierung der Protestbewegung von 1968.

Seit das letzte von Gisela Diewald-Kerkmann untersuchte Urteil ergangen ist, haben viele Bücher, außer von Butz Peters zum Beispiel auch von Stefan Aust oder Wolfgang Kraushaar, bestätigt, dass genau diese Analyse richtig war. Die besondere Bedeutung von Terroristinnen erklärt sich für Peters aus diesem Zusammenhang: "Durch die Studentenrevolte und die danach vielerorts erfolgte ,Selbstorganisation' der Frauen hatten die RAF-Aktivistinnen die Emanzipation als politisches Nahziel vor Augen. Und dies ließ sich in gerade entstandenen Formationen wie der RAF flugs umsetzten - anders als bei tradierten Strukturen im Beruf, in der Wirtschaft und Verwaltung."

Die Chancen im neuen Prozess stehen schlecht

Ob der neue Prozess gegen Verena Becker zur weiteren Wahrheitsfindung beitragen kann, darf bezweifelt werden. Die neuen Beweise gegen die Ex-Terroristin sind mager. Es ist gut möglich, dass sie eine führende Rolle bei der Vorbereitung des Buback-Attentats gespielt hat. Doch gerichtsfest sind die entsprechenden Aussagen ihres ehemaligen Gesinnungsgenossen Peter-Jürgen Boock, auch bekannt als "Karl May der RAF", kaum. Wenn die Generalbundesanwältin nicht noch einen Joker hat, dürfte am Ende des Verfahrens kaum ein Schuldspruch gegen Verena Becker wegen dreifachen Mordes stehen.

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