WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. 150. Geburtstag: Die "unbekümmerte Kriegslust" Wilhelm II.

Kultur 150. Geburtstag

Die "unbekümmerte Kriegslust" Wilhelm II.

Leitender Redakteur Geschichte
Der englische Historiker John C. Röhl ist einer der besten Kenner des Kaisers. In seiner Biografie widerlegt er das Bild vom schwachen Wilhelm II. Stattdessen sei er überaus machtbewusst gewesen. WELT ONLINE befragte Röhl, warum er den Kaiser für den Ersten Weltkrieg verantwortlich macht.

WELT ONLINE: Welchen Ort in der deutschen Geschichte hat Wilhelm II.? War er ein schwacher oder ein starker Herrscher?

John C. G. Röhl: Es mag sein, dass Wilhelm in seinem tiefsten Innern ein schwacher Mensch war. Nach außen hin aber legte er eine oft brutale, von Gottesgnadentum, Militarismus und dynastischem Dünkel durchzogene Herrschsucht an den Tag, Von der Entlassung Bismarcks 1890 bis zum Kriegsausbruch 1914 bestimmte er weitgehend die Außen- und Rüstungspolitik des Kaiserreichs. Der Reichskanzler, die Minister und Generäle ließen sich unglaubliche Grobheiten gefallen und wurden regelrecht von ihm tyrannisiert.

WELT ONLINE: Sie schreiben in Ihrer Biografie: "Mehr als bei anderen historischen Gestalten gibt im Falle Wilhelms II. die Geschichte seiner Geburt Aufschluss über seine spätere Entwicklung." Der Arm des Neugeborenen wurde dabei verletzt und blieb lebenslang verkümmert. Hat diese Verletzung das Schicksal Deutschlands und Europas geprägt?

Röhl: Die schmerzhafte und medizinisch oft sinnlose Behandlung des Arms durch die Ärzte sowie die Probleme, die seine englische Mutter hatte, ihn trotz seiner "Verkrüppelung" zu lieben, waren gewiss schwerwiegende Faktoren in der Persönlichkeitsentwicklung des jungen Thronfolgers. Hauptsächlich um diese Entwicklung ging es mir im ersten Band der Biografie. Natürlich liegt es mir ganz fern, darüber hinaus einen kausalen Zusammenhang zwischen dem kranken Arm und dem Schicksal Deutschlands und Europas konstruieren zu wollen.

WELT ONLINE: Bismarck hatte 1871 die Devise ausgegeben, das Deutsche Reich sei nunmehr "saturiert." Das sah Wilhelm II. wohl ganz anders.

Röhl: Bismarck hatte bald erkennen müssen, dass er mit der Gründung des kleindeutschen Reiches im Herzen Europas bis an die äußerste Grenze des dem europäischen Staatensystem Zumutbaren vorgeschritten war. Wilhelm II. überschätzte maßlos den Spielraum, der dem Reich außenpolitisch gegeben war. Er bezeichnete die "Napoleonische Suprematie" Deutschlands als sein Ziel in Europa und kündigte Ansprüche in der Welt an: im Nordosten Chinas, Taiwan, der Südsee, Lateinamerika, der Karibik, Schwarzafrika, Ägypten, dem Heiligen Land, dem Irak, ja der ganzen islamischen Welt. Nicht nur die bis dahin zerstrittenen europäischen Nachbarn, auch Japan und die USA antworteten auf diese Herausforderung mit der zunehmenden "Einkreisung" des ruhelosen Reichs.

WELT ONLINE: In den Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts verdrängte der junge Kaiser systematisch alle starken und eigenständigen Persönlichkeiten aus der deutschen Politik, führte gar einen "Machtkampf" gegen seinen eigenen Reichskanzler Chlodwig Fürst Hohenlohe. Sein Ziel war ein "persönliches Regiment". Sie schreiben, dass gerade bei "diesem Kaiser" dieser Weg in den Abgrund führen musste ...

Anzeige

Röhl: ... sicherlich hätte es jedwede deutsche Regierung schwierig gefunden, das sich von Metz bis zur Memel erstreckende, rasch aufstrebende Reich auf friedlichem Wege ins europäische Staatensystem einzugliedern. Dazu wären vor allem staatsmännische Weisheit, vorsichtiges Abwägen der Möglichkeiten und Gefahren sowie vertrauenerweckende Verständigungsbereitschaft erforderlich gewesen. Dem emotionsgeladenen Militärmonarchen Wilhelm II. mit seinem absolutistischen Machtanspruch und realitätsfernen Größenwahn fehlten solche Eigenschaften vollkommen. Sein "persönliches Regiment" gefährdete den Weltfrieden.

WELT ONLINE: Von entscheidender Bedeutung für die Bewertung Wilhelms II. ist seine Rolle im Sommer 1914. Drängte der Kaiser aktiv zum Krieg, oder tat er fatalistisch nichts gegen die eskalierende Krise? Ihrer Ansicht nach traf er am 5. Juli 1914 eine bewusste Entscheidung für den Krieg.

Röhl: Bereits lange vor 1914 drängte Wilhelm II. auf einen europäischen Krieg hin, und zwar in den Jahren 1902 bis 1912 gegen Frankreich und England in der Annahme russischer Neutralität, seit November 1912 dann auf einen Krieg gegen Frankreich und Russland in der Annahme, England bliebe neutral. Bis 1914 scheute er allerdings vor der letzten Konsequenz zurück. Die Entscheidung, die er am 5. Juli 1914 traf, Österreich-Ungarn auch für den Fall beizustehen, dass sein Angriff auf Serbien den Krieg gegen Russland und Frankreich auslösen würde, kam allerdings nicht überraschend. Gerade dieses Szenario hatte der Kaiser seit anderthalb Jahren nicht nur mit seinen eigenen höchsten Beratern, sondern auch mit den verbündeten österreichischen Generälen und Staatsmännern eingehend erörtert und dabei eine unbekümmerte Kriegslust an den Tag gelegt.

WELT ONLINE: Sie zitieren im dritten Band Ihrer Biografie aber auch einen bisher wenig beachteten Bericht, laut dem Wilhelm nicht mit einem Eingreifen Russlands auf Seiten Serbiens und also nicht mit einem größeren Krieg gerechnet hat. Widerspricht das nicht Ihrer Interpretation, der Kaiser habe den Krieg bewusst angesteuert?

Röhl: Das ist eine aufgrund der Quellenlage nicht ganz eindeutig zu beantwortende Frage. In den anderthalb Jahren vor dem Kriegsausbruch 1914 hatte Wilhelm wiederholt mit dem Gedanken gespielt, Österreich-Ungarn solle Serbien - so oder so - an sich gliedern, damit es bei einem dann später ausbrechenden Krieg gegen Russland nicht auch noch auf dem Balkan würde kämpfen müssen. Diese Vorstellung spielte als Alternative zum Kontinentalkrieg auch noch in der Julikrise eine Rolle, so zum Beispiel bei seinem bekannten "Halt-in-Belgrad"-Vorschlag vom 28. Juli, der vom Reichskanzler abgefälscht nach Wien weitergeleitet wurde. Die ganze Widersprüchlichkeit in der Haltung Wilhelms zeigt sich beispielhaft nach der Ablehnung des österreichischen Ultimatums durch Serbien: Noch vor der Heimfahrt der "Hohenzollern" am 25. Juli gab er der Flotte den Befehl, die russischen Kriegshäfen in der Ostsee zu beschießen; bei seiner Ankunft in Kiel am 27. Juli ordnete er die Absperrung der östlichen Ostsee an. Beide Befehle wurden ignoriert. Gleichzeitig glaubte er aber an die Möglichkeit, nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin seinen alljährlichen Sommerurlaub mit der Kaiserin in Wilhelmshöhe antreten zu können!

Anzeige

WELT ONLINE: Ein Beleg für Wilhelms Kriegskurs ist für Sie, dass er seine Yacht "Hohenzollern" während der üblichen sommerlichen Nordlandfahrt 1914 die meiste Zeit in Norwegen vor Anker lag, nur 22 Fahrtstunden von Wilhelmshaven entfernt. Hat der Kaiser wirklich versucht, auf diese Weise Frankreich, England und Russland über seine wahren Absichten zu täuschen?

Röhl: Dass der Kaiser trotz der zu erwarteten schweren internationalen Krise am 6. Juli 1914 seinen gewöhnlichen Sommerurlaub antrat, ging auf die Initiative des Kanzlers zurück. Damit sollte dem deutschen Volk, der Weltöffentlichkeit und nicht zuletzt der britischen Regierung vorgetäuscht werden, dass Berlin von der beabsichtigten Aktion Österreichs gegen Serbien keine Ahnung hatte. Die fingierte Nordlandreise des Kaisers bildete nur einen Aspekt einer seit langem ausgeheckten Verschwörung, die das Ziel hatte, Russland als Angreifer dastehen zu lassen.

WELT ONLINE: Wie tief war der Kaiser eingeweiht?

Röhl: Obwohl sich Wilhelm II. einige Kernelemente dieses Komplotts bereits Jahre zuvor zu eigen gemacht hatte, kann er in der Julikrise 1914 nicht als der hauptsächliche Kriegstreiber angesehen werden. Vielmehr galt er bei den eigentlichen Leitern der deutschen Politik wie Generalstabschef von Moltke und Reichskanzler von Bethmann Hollweg als ein Unsicherheitsfaktor, der notfalls neutralisiert werden müsse. Auch dieses Motiv spielte bei der Entscheidung, den Kaiser auf die Nordlandreise zu schicken, eine Rolle. Nach seiner Rückkehr nach Potsdam und Berlin wurden dem hochgradig erregten Monarchen manipulierte Depeschen vorgelegt und seine Befehle stillschweigend übergangen. So unbesonnen, rassistisch und kriegslustig er sich auch in der Julikrise 1914 benahm, nicht Wilhelm II., sondern Moltke konnte sich später damit brüsten, den Großen Krieg "vorbereitet und eingeleitet" zu haben.

WELT ONLINE: In allen drei Bänden Ihrer Lebensbeschreibung finden sich immer wieder Ausflüge in die Medizin - von der schweren Geburt über Spekulationen in britischen Hofkreisen, Wilhelm könnte an psychischen Anfällen wegen der Erbkrankheit Porphyrie leiden, bis hin zu seinem "Wahnbild einer Weltverschwörung der Katholiken, Freimaurer und Juden" gegen Deutschland im allgemeinen und das Haus Hohenzollern im besonderen in den Zwanziger- und Dreißigerjahren. Ist die Biografie Wilhelms II. für Sie vor allem historische Pathologie?

Röhl: Es ist eine der Hauptaufgaben jeder Biografie, das Persönliche und Intime - die physische und psychische Grundlage - des Protagonisten mit dessen Auftreten im öffentlichen Leben in Beziehung zu bringen. Im Falle Kaiser Wilhelms II. ist die Spannung zwischen dem privaten und dem politischen Bereich besonders groß, da er so machtbewusst und so unheilvoll nicht nur in die deutsche Politik, sondern auch in das Weltgeschehen eingriff. Eben dies hat mir die Erforschung seines Lebens so reizvoll gemacht.

Die rund 4000-seitige Biografie "Wilhelm II." Bände 1-3, Beck (2008) ist für gesamt 112 Euro oder in Einzelbänden à 49,90 Euro erhältlich.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema