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Kaiser Wilhelm II. reizt die Deutschen wieder

Mit 29 Jahren kam er auf den Thron – und 30 Jahre lang benutzte er das Reich als Riesenspielzeug. Wilhelm II., letzter Deutscher Kaiser, wollte den Weltkrieg und erschrak, als er tatsächlich kam. Gleich zwei neue Bücher widmen sich dem seltsamen Herrscher, der im Volk so lange beliebt war.

Jugend, so weiß man, ist der einzige Fehler, der sich von selbst korrigiert. Wilhelm II. indes blieb Zeit seines Lebens der „kaiserliche Knabe“. So nannten ihn hohe Offiziere aus dem Generalstab und Diplomaten der Wilhelmstraße, und sie meinten es nicht freundlich.

Unausgesprochen stand dahinter die bange Frage, was einer, der überdimensioniert mit „Wilhelm Imperator Rex“ zu unterschreiben pflegte, der sechsmal am Tag die Uniform wechselte, der an göttliche Berufung und allerhöchste Eingebung glaubte, ernsthaftem Aktenstudium nicht zugetan war und bei dem doch alle Kraftlinien der Macht zusammenliefen – die Frage war, ahnungsvoll und ohne Antwort, was so einer mit dem ererbten Riesenspielzeug genannt Deutsches Reich anfangen würde.

Der Kaiser als oberster Kriegsherr

Bei alledem war Wilhelm II., jedenfalls in den besonnten Zeiten vor dem Großen Krieg, bei den Deutschen beliebt, während seine Liebe zu Großbritannien, dem Empire und britischen Lebensformen seitens der Insel auffallend, ja kränkend unerwidert blieb. Das Geheimnis lag wohl darin, dass sich in ihm die Deutschen, viele jedenfalls, wiedererkannten.

Der Staatsschauspieler und sein Publikum verstanden einander. Darin lag, wenn man so will, ein unausgesprochen demokratisches Element, wie überhaupt die Charakterisierung des deutschen Kaiserreichs und seiner Regierungsform als autoritär die komplizierte Wirklichkeit allenfalls streift. Deutschland war machtvoll durchorganisiert. Und was den Reichstag betraf, so musste sich jede Regierung ihre Mehrheiten suchen, sie durch Koppelgeschäfte organisieren, und war doch nie sicher, wie lange das halten würde.

Allein im Militärischen, zu Lande mehr als zu Wasser, war der Kaiser Oberster Kriegsherr, die Armee ein Staat im Staate, zwar abhängig von der Geldbewilligung durch den Reichstag, aber durch langfristige Vorlagen immer gesichert. Das Fatal-Gefährliche: Als Oberster Kriegsherr konnte der Kaiser qua König von Preußen tatsächlich das Land in den Krieg treiben, wie es 1914 geschah.

Nach dem Krieg erst mal Tee trinken

„Herrliche Zeiten“ hatte der junge Kaiser seinen Untertanen verheißen, und in der Tat wurden die Rezessionen der Bismarckzeit überwunden, wuchs die Wirtschaft, trat Deutschland in eine frühe Globalisierung ein, stiegen die Reallöhne, wurde die Welt jeden Tag ein Stück besser, die Gelehrten klüger, die Ingenieure erfindungsreicher, die Geschäftsleute kühner. Konnte das alles in Hybris und Nemesis enden?

Im November 1918 übertraf die Antwort die düstersten Vorahnungen der Bismarcks und Moltkes und selbst der Rathenaus: Das Reich besiegt, die Armee am Ende, der Kaiser nach Holland desertiert – „a good cup of tea“ erbat er hinter der Grenze – Deutschland in Revolution und Bürgerkrieg, die Währung vertan, die Dämonen am Tanzen, während ein halb-erblindeter Soldat namens Adolf Hitler in Pasewalk beschloss, Politiker zu werden.

Trotz der Katastrophe – oder vielleicht deswegen – hat Wilhelm II. heute Konjunktur.

Nicht nur, dass sich das Lebenswerk des britischen Historikers John Röhl nach einer Dissertation über Reichskanzler von Caprivi, drei Bänden Wilhelm II. und kaum noch überschaubaren Quelleneditionen zum Thema höfischer Umkreis einem Rekord an Volumen nähert, allein der jetzt vorliegende letzte Band von der Jahrhundertwende bis zum banalen Holzhacken, NS-Sympathisieren und albernen Vergreisen in Doorn 1941 hat mehr als 1600 Seiten: Viel Bäume und kein Wald. Da bleibt keine Intrige unerwähnt, kein sexuelles Peccadillo ungeklärt, keine Männerfreundschaft unkommentiert.

Fürst Bismarck im Abseits

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Schlank und rank dagegen, aus der schon längst fast unüberschaubaren Literatur genährt, ist die Wilhelm II.-Biografie, die der Historiker und Journalist Eberhard Straub verfasste, ausgezeichnet durch Sinn für Ironie, Scherz, Satire und tiefere Bedeutung. Seinem Buch kann man das Wesentliche entnehmen.

Marktkräfte können das schwer erklären. Denn Bestseller sind nicht zu erwarten. Was also kann es sein, das so viel Interesse ernsthafter Verlage, ernsthafter Historiker und ernsthafter Leser auf einen unpolitischen Politikbestimmer lenkt, der mit seiner Oberflächlichkeit, seiner flachen Forschheit, seiner Phrasenhaftigkeit entscheidend beigetragen hat zu dem, was George F. Kennan „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ nannte.

Das Geheimnis liegt wahrscheinlich darin, dass sich in Wilhelm II., jedenfalls so lange die herrlichen Zeiten andauerten, die Deutschen wiedererkannten. Bismarck hat in den späten Jahren einmal gewarnt – und er meinte das ad personam als harsche Kritik an den Sprüchen des Kaisers – die deutsche Politik solle nicht handeln „wie der Mann, der, plötzlich zu Gelde gekommen, auf die Taler in seiner Tasche pocht und jedermann anrempelt“. Aber wer hörte noch auf den alten pessimistischen Mann, der längst zum Monument geworden war?

Einmal hatte Wilhelm recht

Es gehört zum Verhängnis des Deutschen Reiches, dass gegen Ende der 1880er Jahre, als Wilhelm I. starb und der liberale, auf England schauende Friedrich III. an die Macht kam und nur 99 Tage regierte, dahinsiechend, Wilhelm II., gerade 29 Jahre alt, recht hatte, als er den Alten entließ: Bismarck hatte 1889 auf die ausgedehnten Bergwerkstreiks in Schlesien und an der Ruhr, als die strategischen Kohlevorräte knapp wurden, durch Belagerungszustand und scharfes Schießen antworten wollen. Bismarck dachte sogar an Staatsstreich und Umschreiben der Reichsverfassung, um Sozialdemokratie und liberales Bürgertum fernzuhalten von der Macht.

Da war es der junge Kaiser, der, beraten von den Kommandierenden Generalen, den Konfliktkurs Bismarcks stoppte mit dem Wort, er wolle nicht „meine ersten Regierungsjahre mit dem Blute meiner Untertanen färben“. Recht hatte er, für dieses eine Mal.

Es folgten im Februar 1890 Reichstagswahlen, sie brachten der Sozialdemokratie – Sozialistengesetz hin, Parteiverbote her – eine starke Fraktion, und Wilhelm II., beraten vom überaus fähigen Oberpräsidenten der Rheinprovinz Freiherr von Berlepsch empfing eine Delegation der streikenden Arbeiter. Das hatte es nie zuvor gegeben. Auch suchte er die Sozialgesetzgebung des vergangenen Jahrzehnts weiterzuführen, engagierte sich für internationalen Arbeiterschutz, und fand in dem General Leo von Caprivi einen staatsbewussten Reichskanzler, der nach innen und außen für einen Kurs der Versöhnung stand, eingeschlossen mit Russland.

Das alles war der „Neue Kurs“, und der war mit Bismarck nicht zu machen. Das Ergebnis dieser Konfrontation war die Entlassung Bismarcks, die dieser fassungslos entgegennahm und für die Nachwelt schönte.

Die Leistungen Wilhelms II.

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Man kann Wilhelm II. vieles vorwerfen – Röhls Buch ist eine lange Sündenliste – aber nicht, dass er nicht im Einklang war mit dem Geist der Zeit. Er brauchte sich nicht wählen zu lassen – hätte er es getan, er hätte wohl gut abgeschnitten. Lassen wir die mühsame Chronik von Tag zu Tag beiseite, das kann man bei Röhl nachlesen.

Der kaiserliche Kunstgeschmack war abominabel: Die künstlerische Moderne ging an ihm vorbei. War das der Nachfahre der Preußenkönige, die die Kunst- und Parklandschaft von der Pfaueninsel bis zum Stadtschloss geschaffen hatten? Immerhin, er hat Wilhelm von Bode gefördert, den Giganten der Berliner Museumspolitik.

Aber fragen wir nach der Modernität. Es war der Kaiser, der 1909, zum Centennarium der Humboldtschen Reformen, beraten vom weltklugen Theologen Adolf von Harnack, Big Science in Deutschland etablierte in Gestalt der Kaiser Wilhelm Gesellschaft – heute Max Planck Gesellschaft. Dafür hat sich Wilhelm II. engagiert und public-private partnerships gestiftet. Er hatte das Kasseler Friedrichsgymnasium besucht, setzte sich aber für Realgymnasien ein und für Technische Hochschulen. Ihm war klar, dass Deutschland nur als Industriestaat Machtstaat bleiben konnte.

Aufbau der deutschen Flotte

Davon ließ er sich auch verführen. Es war die Kriegsmarine, die ihn faszinierte. Sie war, anders als die preußische Armee, Sache des Reiches, Traum des Bürgertums von 1848, und die Söhne des Etagenadels, die wenig Zugang hatten zu den feudalen Potsdamer Garderegimentern, sahen in der hochtechnischen Flotte ihren Paradegrund.

Keiner hat das mit mehr Verve, Ehrgeiz und Energie angepackt als Alfred Tirpitz, Bürgersohn aus Kiel. Er vermittelte dem Kaiser, der doch am liebsten Engländer gewesen wäre, Lieblingsenkel der Queen Victoria und doch vom Jachtklub in Cowes refüsiert, dass Deutschland als Flottenmacht den Aufstieg zur Weltgeltung schaffen könnte. Das war damals internationale Überzeugung: Der amerikanische Admiral Alfred Thayer Mahan hat Ähnliches gepredigt und gilt bis heute als Vater amerikanischer Welt- und Seestrategie.

Und in der Tat gab es damals eine technisch-maritime Revolution, die die verspäteten Seemächte begünstigte: Stahlschiffe, Elektrik, Optik, gewaltige Geschützkaliber, Torpedos, Unterseeboote. Wer konnte da widerstehen? Niemals war eine Rüstungspolitik so fatal und so populär: Die lieben Kleinen tanzten in Matrosenuniformen, der blaue Hunderter zeigte qualmende Linienschiffe mit dräuenden Kanonen, der Reichstag bewilligte, was Tirpitz wollte. Allerdings, als die Briten nachzogen und überholten, da wurde es den deutschen Marinern angst und bange und sie verlegten sich auf die U-Boote. Ob der Kaiser das verstanden hat?

Wilhelm, der doch Oberbefehlshaber war, hat nicht einmal die Fatalität des Schlieffenplans begriffen, der auf die russisch-französische Militärallianz 1906 durch ein Vabanque antwortete: Hinhaltende Verteidigung im Osten, großer Sichelschnitt im Westen, dann Wendung auf der inneren Linie in Erwartung des schnellen Endsiegs.

Erst Ende Juli 1914 hat Wilhelm II., die Schicksalhaftigkeit dieser Strategie verstanden und den Generalstabschef gefragt, warum man denn im Westen angreifen müsse, wo doch der Kriegsgrund im Osten lag. Der aber winkte nur ab und verlor die Nerven. Die Maschine war im Rollen, und als der Krieg begonnen hatte, mit seinen unvorstellbaren Opfern und der Sieg immer ferner rückte, da kämpfte sich Europa zu Tode.

Der Mann, der sich für das Werkzeug der Vorsehung hielt, war hoffnungslos überfordert, eitel und anmaßend, ein ewiger Leutnant, und am Ende ein nationalistischer Kindskopf. Aber ein Hitler war er nicht.

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