WELTGo!
Ihr KI-Assistent für alle Fragen
Ihr KI-Assistent für alle Fragen und Lebenslagen
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Kultur
  3. Rätselhafter Kaiser: War Wilhelm II. Kriegstreiber oder Getriebener?

Kultur Rätselhafter Kaiser

War Wilhelm II. Kriegstreiber oder Getriebener?

Vor 150 Jahren kam Wilhelm II. zur Welt: Ein zerrissener, launischer Charakter. Er zog sich bis zu fünfmal am Tag um, und seine Aussagen waren wechselhaft wie die Garderobe. Historiker streiten sich weiterhin: War der Kaiser Militarist, Modernisierer oder gar ein Demokrat? Von allem etwas, meint Berthold Seewald .

Es sollte ein Neuanfang für Deutschland sein. Nach dem Tod des greisen Kaisers Wilhelm I. und, nur 99 Tage später, seines krebskranken Sohnes Friedrich III. fielen Wilhelm II., gerade einmal 29-jährig, am 15. Juni 1888 Amt und Titel des Deutschen Kaisers zu. Nicht nur weil es bei Thronwechseln so üblich war, jubelten die Zeitgenossen.

Die Züge Wilhelms „vereinigen sich zu einem Gesamtbilde von so frischen, hoffnungsreichen Farben, dass unser Volk in der Tat mit dem vollsten Vertrauen zu dem Träger der Krone emporzublicken berechtigt ist“, fasste ein Redner die Stimmung in Worte.

26 Friedens- und vier Kriegsjahre später, an deren Ende der Kaiser ins Exil nach Doorn in den Niederlanden entschwunden war, zog Harry Graf Kessler ein gänzlich anderes Fazit: Jede neue Nachricht mache „das Bild dieses Schwächlings, Feiglings, brutalen Strebers und Bramarbas, dieses Hohlkopfs und Aufschneiders, der Deutschland ins Unglück gestürzt hat, noch abstoßender. Nicht ein Zug ist an ihm, der Sympathie oder Mitleid erregen könnte.“ Die diabolische Prophetie Wilhelms von 1927, „Presse, Juden und Mücken“ seien „eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss. Das Beste wäre wohl Gas“, dürfte es leicht machen, sich Kesslers Verdikt anzuschließen.

Eine Lichtgestalt?

Dennoch ist ein abschließendes Urteil immer noch nicht gefällt. Drei Historiker haben Wilhelms 150. Geburtstag am 27. Januar zum Anlass genommen, sein Leben niederzuschreiben und zu deuten. Der Brite John C. G. Röhl sieht in ihm den Hauptverantwortlichen dafür, dass Deutschland in die Katastrophe des Ersten Weltkrieges getrieben wurde. Der in Oxford lehrende Australier Christopher Clark hält ihn dagegen für einen Getriebenen, der einfach zu schwach war, gegen die widerstreitenden Interessen und Pläne seiner Umgebung eigene Vorstellungen durchzusetzen. Und für den Berliner Eberhard Straub war der Kaiser gar eine Lichtgestalt, die ihr Land an die Weltspitze von Kultur und Wissenschaft führte.

Wer also war Wilhelm II.? Die Frage überrascht. Denn über die Persönlichkeit Wilhelms herrscht im Grunde Einvernehmen. Auf die Charakterskizze, die der Vorsitzende der Preußischen Historischen Kommission, Frank-Lothar Kroll, formuliert hat, könnten sich wohl auch die ärgsten Kritiker des Kaisers einigen: „Ausgestattet mit rascher Auffassungsgabe und einem überdurchschnittlich guten Gedächtnis, vermochte Wilhelm II. durch Schwung, Elan und Spontaneität im Auftreten für sich einzunehmen. Im persönlichen Umgang bewies er Charme und Liebenswürdigkeit, überzeugte mit seinem Rednertalent und beeindruckte durch Wissensdurst, Begeisterungsfähigkeit und weit gespannte Interessen. Solchen Vorzügen standen indes bedenkliche Defizite gegenüber. Sprunghaftigkeit, Unausgeglichenheit und Konzentrationsschwäche wurden von der engeren Umgebung schon früh als Charaktermängel des Kaisers registriert, und bald gerieten nervöse Betriebsamkeit, übersteigerter Geltungsdrang, Mangel an Takt, Augenmaß und Gelassenheit auch in der breiten Öffentlichkeit zu typischen Merkmalen ,wilhelminischen' Stils.“

"Leichtgeradiger Hirnschaden“

Von den zahlreichen Versuchen, die tiefe Zerrissenheit von Wilhelms Charakter zu entschlüsseln, ist die seines Biografen John Röhl sicherlich die weitestgehende und zugleich am besten untermauerte. Danach kam der Sohn des Kronprinzen Friedrich und der englischen Prinzessin Victoria, der die dramatische Steißgeburt nur durch die Aufmerksamkeit einer Hebamme überlebte und dessen linke Hand verkrüppelt blieb, wegen kurzzeitigen Sauerstoffmangels mit einem „leichtgradigen Hirnschaden“ zur Welt. Das könne Überempfindlichkeit, Reizbarkeit und Konzentrationsschwäche des Erwachsenen erklären.

Die drakonischen Maßnahmen der Eltern, ihren behinderten Sohn mit blutigen Kaninchenfellen und Kopfstreckmaschinen zu therapieren, der ganze pädagogische Druck, den künftigen Thronerben doch noch zu einem tüchtigen Preußen zu erziehen, liefern genügend Material für psychologische Spekulationen. Andererseits wuchs Wilhelm in einem Elternhaus auf, das unpreußischer war als das aller Hohenzollernherrscher vor ihm. Der Vater pflegte liberale Meinungen. Darin wurde er von seiner Frau nach Kräften unterstützt, die als Tochter Queen Victorias zeit ihres Lebens engen Kontakt nach England hielt. Um ihren Sohn nicht einfach dem dumpfen Drill preußischer Kadettenanstalten zu überlassen, gaben sie Wilhelm ins Friedrichsgymnasium in Kassel, die erste öffentliche Schule, die ein preußischer Thronfolger besuchte.

Doch die Wirkung blieb ambivalent. „Er ist mit Anschauungen auf den Thron gekommen, die für unsere preußischen Begriffe neu und nicht durch unser Verfassungsleben geschult sind“, schrieb schon Bismarck hasserfüllt nach seiner Entlassung. Den Stil des jungen Monarchen mag er damit kaum gemeint haben. Denn der blieb auf den ersten Blick der Tradition verpflichtet. Mit eiserner Disziplin – er musste auf dem Pferd festgebunden werden – lernte der verkrüppelte Prinz das Reiten, diente mit Eifer in den Potsdamer Garderegimentern. Selbst als Familienvater sollte er den Heiligen Abend im Kreise seiner Offizierskameraden verbringen.

Doch unabhängig davon, dass derartige Angewohnheiten (neben den Liebkosungen seiner Adjutanten) noch heute Stoff für homoerotische Spekulationen bieten, zeigen sie doch auch die Opposition, die Wilhelm gegenüber seinen Eltern und ihren politischen Vorstellungen entwickelte. Da war die Hassliebe, in der er seiner Mutter zugetan war. Und da waren vor allem die Intrigen, in die sich der erwachsene Kronprinz von Wilhelm I. und dessen Kanzler Bismarck gegen seinen siechenden Vater einbinden ließ. Die Möglichkeit dazu bot ihm der frühe eigene Hausstand durch die Ehe mit der Prinzessin Auguste Viktoria von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, die ihm zwar sechs Söhne und eine Tochter gebar, aber kaum über die geistigen Fähigkeiten verfügte, um ihrem Mann eine gleichwertige Gesprächspartnerin zu sein.

Kurze Sympathie für arme Arbeiter

Anzeige

Der großen Masse seiner Untertanen trat Wilhelm erst mit seinem Regierungsantritt und dem Zerwürfnis mit Bismarck ins Blickfeld. Der Eiserne verlangte ein hartes Vorgehen gegen Streikende im Ruhrgebiet, Wilhelm indes war gerade in einer Phase, in der er sich für die Belange der Armen interessierte. „Weil die Arbeiter meine Untertanen sind, für die ich zu sorgen habe! Und wenn die Millionäre nicht nachgeben, werde ich meine Truppen zurückziehen, und wenn ihre Villen erst in Flammen stehen, werden sie schon klein beigeben“, soll er den Fürsten abgefertigt und seine Demission verlangt haben. Doch die kaiserlichen Sympathien für die Arbeiter verflogen, bald hieß es: „Für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit Reichs- und Vaterlandsfeind.“

So begann es also, Wilhelms „persönliches Regiment“. Tatsächlich stellte die Verfassung des 1871 begründeten Nationalstaats den Kaiser in den Mittelpunkt. Er ernannte den Reichskanzler sowie die hohen Beamten des Reiches und Preußens. Als Oberbefehlshaber von Heer und Marine berief er auch die militärische Führung. Von seiner Unterschrift waren Gesetze abhängig. Ein ganzer Kranz von Kabinetten und Stäben unterstützte ihn dabei. Als Kaiser vertrat er Deutschland in einer Epoche, in der eine Nation noch in ganz inniger Weise mit ihrem Monarchen identifiziert wurde, ganz wesentlich nach außen. Und als König von Preußen kontrollierte er zudem den größten Bundesstaat, der zwei Drittel der Fläche und Einwohner des Reiches umfasste.

Dennoch war der Kaiser nicht allein auf dieser Welt, teilte er sich doch die Macht mit Bundesrat und Reichstag. Der Bundesrat war die Versammlung der 22 deutschen Fürsten (nebst einiger Hansestädte), die das Reich als Fürstenbund recht eigentlich begründeten. Als demokratischer Gegenpol fungierte der Reichstag, der nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht von der erwachsenen männlichen Bevölkerung gewählt wurde und in dem sich der Kanzler seine Mehrheiten zu suchen hatte.

Ein Genie wie Bismarck war in der Lage, dieses komplizierte Geflecht unterschiedlicher Interessen vor dem Hintergrund wachsender sozialer und politischer Spannungen zu kontrollieren. Doch nach 1890 zeigte sich bald, dass Wilhelm keineswegs der „deutsche Cäsar“ war, um der „verspäteten Nation“ einen „Platz an der Sonne“ zu sichern. Dazu war er viel zu sprunghaft, unkonzentriert, unbedarft. „Wilhelm der Plötzliche“ spotteten die Zeitgenossen. Er verwandte seine Energie lieber darauf, bis zu fünfmal am Tag seine Garderobe von Grund auf zu wechseln (zum Schrecken der Hofgesellschaft, die es ihm nachtun musste).

Der Fluch des Wilhelminismus

Aus Wilhelms offensichtlicher Unfähigkeit, seine Rolle im Mächtespiel des Kaiserreichs zu spielen, hat der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler eines der wirkungsmächtigsten Bilder des Kaisers destilliert. Danach war der „Wilhelminismus“ nichts anderes als eine „Verschleierung“, eine „Ablenkung“ vom „Zusammenspiel machtbewusster herrschender Klassen und einflussgewohnter Bürokratien, quasi autonomer Institutionen und formell unverantwortlicher Politiker“. Mit Wilhelm als Galionsfigur gelang es Adel und Bourgeoisie, sich die Herrschaft in einem sich galoppierend entwickelnden Industriestaat zu sichern, ohne demokratische Zugeständnisse machen zu müssen.

Das Plädoyer für die Gegenposition hat John Röhl mit seiner mehr als 4000 Seiten starken Biografie soeben abgeschlossen: Wilhelm glaubte nicht nur, ein persönliches Regiment zu führen. Er tat es auch. Danach füllte Wilhelm zumindest bis 1914 die Rolle im deutschen Machtzentrum aus, die sein Großvater Wilhelm I. von Bismarck hatte verwalten lassen.

Damit aber ist Wilhelm für die wichtigsten Fehler verantwortlich zu machen, die dem Kaiserreich vorgeworfen wurden und werden. Die Liste ist lang. Sie reicht von Bismarcks Entlassung über den desaströsen außenpolitischen Zickzackkurs (Nichtverlängerung des geheimen Rückversicherungsvertrages mit Russland 1890, die Krüger-Depesche 1896 an die Buren, die „Hunnen-Rede“ an das Expeditionskorps für den Boxer-Aufstand, die Marokko-Politik und die „Daily Telegraph“-Affäre) bis hin zum Schlachtflottenbau und dem Blankoscheck an Österreich-Ungarn in der Julikrise 1914 und damit der Entfesselung des Ersten Weltkrieges. Wilhelm wird damit zur „Nemesis der Weltgeschichte“.

Anzeige

Doch greift diese Deutung nicht zu kurz? Im Jahr 1900 hatte Wilhelm seinen sich gegen den Boxer-Aufstand einschiffenden Truppen zugerufen: „Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht! Wer euch in die Hände fällt, sei euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht ... so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch euch in einer Weise bestätigt werden, dass niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.“ Der Sturm der Empörung, der daraufhin losbrach, zeigt doch, dass Deutschland eben nicht der Hunnenstaat war, den Wilhelm beschwor, sondern ein Land, das auch in Wissenschaft, Technik und Kultur Weltgeltung besaß. Und Wilhelm hatte seinen Anteil daran. Der Kaiser, der mehr Zeit auf Reisen als in Berlin oder Potsdam verbracht hat, gehörte zu den Bahnbrechern der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Er förderte archäologische Grabungen und machte sich zum Fürsprecher einer praxisnahen Schul- und Universitätsausbildung.

Wilhelm war polyglott, vielfach interessiert, ein guter Zeichner. Doch alle guten Anlagen hinderten Wilhelm nicht, die moderne Malerei zu verachten und seinen ästhetischen Geschmack vom Berliner Akademie-Präsidenten Anton von Werner verwirklicht zu sehen, dessen Schwülstigkeit auch dem realen Leben des Kaiserreichs seinen Stempel aufdrückte.

Der passende Kaiser zum Volk

Wäre er nicht Kaiser gewesen, hätte er ein Homme de Lettres werden können. Vielleicht. Hinter so viel verständnisvollem Urteil, das noch einmal von Eberhard Straub vertreten wurde, verbirgt sich allerdings auch eine schwärmerische Faszination für das Fin de Siècle, seinen intellektuellen Snobismus und nicht zuletzt die Décadence. Wie auch immer. Seinen Untertanen war ihr Kaiser der rechte. „Dies Volk in dieser Zeit, bewusst und unbewusst, hat ihn so gewollt und nicht anders gewollt“, resümierte Walter Rathenau. „Niemals zuvor hat so vollkommen ein sinnbildlicher Mensch sich in der Epoche, eine Epoche sich im Menschen gespiegelt.“

Vielleicht erleichtert es eine Anekdote, das wahre Bild Wilhelms zu konturieren. Als der Nord-Ostsee-Kanal 1895 unter seinem Namen eingeweiht werden sollte, wünschte der Kaiser, ein Schiff höchstselbst durch das Bauwerk zu steuern. Also baute man ein zweites Steuerrad derart in dem Schiff ein, dass ein Fachmann die wirkliche Arbeit tat, während Wilhelm nur glaubte, sie zu tun.

Die Geschichte trifft es ziemlich genau: Der Wunsch des Kaisers war Befehl. Man kam ihm äußerlich nach, handelte aber tatsächlich am hohen Herrn vorbei.

Ohnmächtiger Steuermann

Als ohnmächtigen Steuermann, hin und her getrieben von übermächtigen Bürokratien, sieht ihn denn auch Christopher Clark. Der Historiker legt die engen Grenzen Wilhelms bloß, die durch seinen Charakter und seine Persönlichkeit vorgegeben waren. Nicht im Frieden und schon gar nicht im Krieg konnte Wilhelm die Funktion ausfüllen, die dem Kaiser von der Verfassung zugewiesen wurde: zwischen den unterschiedlichen Behörden, Instanzen und Zuständigkeiten zu vermitteln und für eine effiziente Zusammenarbeit zu sorgen.

Gerade die oft gerühmte Medienarbeit des Kaisers dient als Exempel für dessen Beschränktheit. Anders als seine Vorgänger hat Wilhelm Hunderte von Reden gehalten, die er, trotz aller Bemühungen seiner Redenschreiber, häufig frei sprach. Impulsiv, wie er war, ließ er sich von der Stimmung des Augenblicks treiben. Ein Satz wie: „Einer nur ist Herr im Reiche, und der bin ich!“ mochte von einer Versammlung rheinischer Industrieller vielleicht noch als Spitze gegen Bismarck verstanden werden. Unter den Bedingungen einer sich professionalisierenden, wortstarken Presse dröhnten solche Formulierungen aber bis in den letzten Winkel des Reiches und wurden gänzlich anders aufgenommen, als ursprünglich intendiert war, nämlich als Zurücksetzung der übrigen Fürsten im Reich.

Nicht umsonst entzündete sich die größte Krise von Wilhelms Herrschaft 1908 an dem Interview, das er dem „Daily Telegraph“ gegeben hatte. Darin suchte er sich als Freund Englands darzustellen, der seinen britischen Verwandten sogar den Feldzugsplan gegen die Buren gesandt habe. Jedoch muss man hinzufügen: Ordnungsgemäß hatte Wilhelm den Text dem Reichskanzler Bernhard von Bülow vorlegen lassen, der die Prüfung allerdings nur von Subalternen vornehmen ließ.

Sicherlich greift die Mahnung Winston Churchills zu kurz, stets zu fragen: „Was hätte ich an seiner Stelle getan?“ Wie die Ereignisse vom Sommer 1914 zeigen, hätten auch andere Politiker den Sprung ins Dunkle gewagt. Dennoch reduziert sich die Verantwortung für den Kriegsausbruch und damit für die „Urkatastrophe des Jahrhunderts“ auf drei Männer, einfach deswegen, weil sie allein aufgrund ihrer Stellung die Macht gehabt hätten, den Krieg zu verhindern: Zar Nikolaus II., Kaiser Franz Joseph I. von Österreich-Ungarn und Wilhelm.

Offiziere hätten auf Wilhelm gehört

Der ehemalige Leiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamts der Bundeswehr Wilhelm Deist hat herausgearbeitet, dass jeder deutsche Offizier sich 1914 einem Machtwort Wilhelms gebeugt hätte. Obwohl er mit seinen Reden und diplomatischen Fehltritten immer wieder die Gefahr eines Krieges heraufbeschworen hatte, hat sich Wilhelm doch nie darum gekümmert, welche Vorkehrungen seine Generäle für den Ernstfall getroffen hatten. Der unheilvolle Schlieffen-Plan, nach dem erst Frankreich niedergeworfen werden sollte, bevor man gegen Russland zog, der die Neutralität Belgiens mit Füßen trat (deren Schändung England in den Krieg ziehen musste) und der unter einem Zeitdiktat stand, das keinerlei Handlungsspielräume zuließ – Wilhelm hätte sich beizeiten in ihn einweihen lassen müssen. Inkompetent, wie er war, fragte er nicht einmal danach, sondern ließ seine Generäle und Beamten gewähren, die da einem teuflischen Automatismus folgten.

Noch einmal: Wilhelm war hellsichtig genug, nach der entgegenkommenden serbischen Antwort auf das österreichische Ultimatum am 28. Juli 1914 zu erkennen: „Das ist mehr, als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien; aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort.“ Der Zar, der gerade erst eine Revolution überstanden hatte, oder Franz Joseph, der den Zerfall seines Vielvölkerstaats fürchtete, mögen ihre eigenen Gründe gehabt haben, sich nicht gegen den Krieg zu stellen. Wilhelm wollte ihn wohl nicht. Aber durch seine martialischen Reden hatte er einer aggressiven Stimmung den Boden bereitet, die zu bremsen er wirklich nicht der Mann war.

Den Krieg nicht verhindert zu haben, der sein Land und den Kontinent zerstörte und der zur Ursache eines noch schrecklicheren Weltenbrandes wurde: Diese Verantwortlichkeit kann Wilhelm keiner nehmen. Wenn er aber an diesem zentralen Punkt schwach, haltlos und unfähig war, wie soll er dann maßgeblich die strahlende Rolle gespielt haben, die ihm manche heute andichten: ein demokratischer Monarch und Bahnbrecher der Moderne gewesen zu sein?

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema