Wie jedes Jahr, wenn sich der Juni seinem Ende zuneigt, sind in Klagenfurt am Wörthersee die Leinwände zum Public Viewing über die malerische Altstadt verteilt. Doch dieses Jahr buhlen zwei Wettbewerbe um die Aufmerksamkeit des Publikums: die Fußball-Europameisterschaft und die 48. Tage der deutschsprachigen Literatur, bei denen drei Tage lang vierzehn Autoren vor einer siebenköpfigen Jury um die Wette lesen, damit einer von ihnen am Sonntag den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmannpreis mit nach Hause nehmen darf.
Am zweiten Bewerbsnachmittag überlappen dann endlich erstmals beide Welten: In Olivia Wenzels Text „Hochleistung, Baby“ tritt ein Fußballspieler auf. Es ist, wie die Jurorin Mithu Sanyal treffend formuliert, einer der „welthaltigsten“ Texte, die man seit Mittwoch zu hören bekam. Neben Fußball geht es um Milchstau, Rassismus, Mutterschaft, Gender und Klasse. Diese Vielfalt zeitgenössischer Themen wird von Jury-Neuzugang Laura de Weck gelobt, veranlasst Jurorin Mara Delius – Leiterin des WELT-Feuilletons und Herausgeberin der „Literarischen Welt“ – hingegen dazu, den Text als „Thesenstück“ und sprachlich „zutiefst konservativ“ zu charakterisieren.
Wenzels Auftritt ist auch in anderer Hinsicht der erste Moment, der Bewegung in den eher dröge begonnenen Wettbewerb bringt: Die Autorin des Romans „1000 Serpentinen Angst“ ist die erste Vortragende, die die allen Autoren gebotene Chance nutzt, auf das Urteil der Jury zu reagieren. Während die meisten Autoren sich mit einem schüchternen „Danke“ zurückziehen, weiß Wenzel, dass das, was sie jetzt tun wird, sich für Autoren eigentlich nicht gehört, nämlich den eigenen Text nicht für sich selbst stehenzulassen, sondern zu verteidigen. Und so erklärt sie der Jury nicht nur, worum es in ihrem Text geht, sondern adressiert sogar eine fassungslose Nachfrage in Delius’ Richtung: „Ein Fußballer, der an einer Brust saugt, ist ein konventionelles Bild?“ „Kommt darauf an, was man unter ‚konventionell‘ versteht“, entgegnet die Jurorin.
Auch Sophie Steins zwischen Fantastik und Science-Fiction angesiedelte Geschichte entzweit die Jury, was in diesem Jahr eher das Los der eindrücklichsten Texte zu sein scheint, während die handwerklich einwandfrei gemachten zwar einhellige Bewunderungsrufe („perfekt“, „fulminant“, „meisterhaft“) auf sich ziehen, aber sich vielleicht die Frage stellen müssen, wie viel sie mit der Gegenwart und den uns heute umtreibenden Fragen zu tun haben. Juror – und Jury-Vorsitzender –Klaus Kastberger etwa verdächtigt Steins Text, der die hochaktuellen psychologischen Diskurse um das „innere Kind“ mit Ironie und Spannung verhandelt, einem philosophischen Seminar entlaufen zu sein, ein „Sonntagsgwandl“ zu tragen und an „Adjektiveritis“ erkrankt zu sein.
Im Gegensatz zum Vorjahr, wo in fast allen Texten die Ich-Perspektive dominierte, haben sich die Autoren jetzt originellere Sprechsubjekte ausgedacht. Bei Henrik Szántó etwa erzählt ein Haus in der ersten Person Plural. Bei Sarah Elena Müller hören wir sogar den Einwürfen einer sprechenden Schwelle zu. Totalvernichtungen von Juroren-Seite wie letztes Jahr blieben bisher aus. Genauso wie die 2023 auffällig häufig vertretenen „Performance“-Lesungen, in denen gesungen, geschrien und das Publikum befragt wurde.
Die Eröffnungsrede, die ja oft den Ton für die gesamte Veranstaltung setzt, fiel dieses Jahr eher „unterwältigend“ aus, um ein von Juror Philipp Tingler gern benutztes Adjektiv zu gebrauchen. Wo die Ukrainerin Tanja Maljartschuk mit ihrer erschütternden Eröffnungsrede 2023 ihr angesichts des Krieges verlorenes Vertrauen in die Sprache beklagte, eröffnete Ferdinand Schmalz den diesjährigen Bewerb zwar auch mit einem Text über eine Schreibkrise, lässt dabei allerdings an Dringlichkeit vermissen: „euch kann ich’s ja ruhig sagen: mir ist nichts eingefallen.“
Ein Thema, das sich durch die beiden ersten Lesetage zieht, sind besondere, kammerspielartige Schauplätze: Es gibt Texte, die am Meer spielen, im Baumarkt, im Krankenhaus, auf einem Kutter und einer Insel. Die sich daran anschließenden Diskussionen offenbaren oft mehr über die Juroren als über die Autoren. Klaus Kastberger, der den Vorsitz von Insa Wilke übernahm, die nicht mehr zur Jury gehört, und Brigitte Schwens-Harrant etwa outen sich als überzeugte Baumarkt-Hasser. Mit dem Wörthersee hat der Bachmannwettbewerb jedenfalls nach wie vor den besten Schauplatz erwischt, den man sich vorstellen kann.