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Kultur Ingeborg-Bachmann-Preis

Mütter, Essiggurken und das Grauen im Baumarkt

Managing Editor im Feuilleton WELT und WELT am Sonntag
Bachmann-Preisträger 2024: Tijan Sila Bachmann-Preisträger 2024: Tijan Sila
Bachmann-Preisträger 2024: Tijan Sila
Quelle: Gert Eggenberger/APA/dpa
Der Schriftsteller Tijan Sila gewinnt den diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis. Doch Publikumsliebling ist eine Satire über den Sinn und Unsinn von Essiggurken. Humor hilft, sogar in Klagenfurt. So war das dreitägige Wettlesen am Wörthersee.
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Wie hältst du’s mit dem Gurkerl? Drei Tage lang trafen sich 14 Autoren der deutschsprachigen Literaturszene in Klagenfurt, um vor einer siebenköpfigen Kritiker-Jury und laufenden Fernsehkameras literarische Texte vorzulesen. Und am Ende wurde immer wieder über „Das Gurkerl“ diskutiert. Denn Johanna Sebauers gleichnamige Mediensatire war von „einer solchen Knackigkeit“, von einer solchen spritzigen Frische, dass der Österreicherin, die beim Lesen ein Gurkenglas vor sich auf dem Tisch positioniert hatte, der mit 7000 Euro dotierte Publikumspreis sicher war.

Auch die Jury würdigte Sebauers Text und überreichte der Autorin – nach einer für alle verwirrenden Stichwahl, deren undurchsichtige Regeln genügend Stoff für den nächsten satirischen Bachmanntext böten – zusätzlich den mit 7500 Euro dotierten 3sat-Preis. Der Juror Klaus Kastberger, auf dessen Einladung Sebauer gelesen hatte, ist seit diesem Jahr der Vorsitzende der siebenköpfigen Jury, zu der die Dramatikerin Laura de Weck neu hinzugestoßen ist.

Die übrigen Kritiker sind wie gehabt Thomas Strässle, Brigitte Schwens-Harrant, Mithu Sanyal, Philipp Tingler und Mara Delius (Feuilletonchefin der WELT und Herausgeberin der „Literarischen Welt“). Kastberger trug ein T-Shirt mit Gurkenaufdruck und versicherte, dass man nach dem Text für immer eine andere Einstellung zu Essiggurken haben werde als zuvor. „Und das ist das Beste, was ein Text schaffen kann.“ Aber „Das Gurkerl“ schaffte noch viel mehr: Es zog sich wie ein Leitmotiv durch die Diskussionen der Jury. So wie letztes Jahr ein Text übers Putzen die Juroren anstachelte, über eigene Putzgewohnheiten zu plaudern, weiß man jetzt, welcher Juror wie seine Essiggurkerl verspeist. Die von Kastberger in seinen Abschlussworten erwähnte „Krankheit oder Massenhypnose“, die Jahr für Jahr beim Bachmannbewerb die gesamte Literaturwelt erfasse, verdankt sich nicht zuletzt diesem Text.

Doch, so Kastberger in seiner Laudatio, humorvolle Texte hätten es beim Bachmannwettbewerb nicht immer leicht. Ein Blick auf die anderen drei ausgezeichneten Texte zeigt, was er meint: Den mit 25.000 Euro versehenen Ingeborg-Bachmann-Preis erhält der in Jugoslawien geborene Schriftsteller Tijan Sila für seinen Text „Der Tag, an dem meine Mutter verrückt wurde“. Es ist nicht die einzige Geschichte über jugoslawische Mütter, die in diesem Jahrgang geehrt wird. Auch Tamara Štajners verletzte Rede an ihre Mutter erhält den mit 10.000 Euro dotierten KELAG-Preis. In beiden Laudationes ist von Schmerzen die Rede, die „von Generation zu Generation“ weitergereicht würden. Transgenerational vererbte Traumata und das Nachwirken der Vergangenheit in der Gegenwart, Krisen, Kriege, kaputte Familien prägten alle drei Lesetage.

Als Zuhörer war man eigentlich froh über jeden Text, der sich für andere Sujets öffnete, über Olivia Wenzels gewitztes Fußballer-Interview, Sophie Steins atmosphärische Sci-Fi-Idylle oder eben Sebauers kluge Debatten-Karikatur. Bezeichnend war, dass auf Sebauers zwar ausführlich gelobten Text prompt der Jury-Wunsch folgte, er hätte am Ende ruhig gewaltvoller eskalieren können. In Klagenfurt muss gestorben werden.

Auch jenseits des Gurkerls zog sich das literarische Motiv der Nahrungsaufnahme, des Hungerns und der Übersättigung durch den Wettbewerb: Bei Olivia Wenzel ging es um Muttermilch, bei Sophie Stein ums Frühstücksei, bei Tamara Štajner um Gnocchi und bei Miedya Mahmod um den leeren Kühlschrank. Das passt nach Kärnten, wo der Bachmannpreis-Siegertext 2016 schon einmal von einem Frühstücksei handelte, und wo für den versammelten Literaturbetrieb nach den Lesungen alljährlich Köstlichkeiten wie Käsnudeln, Palatschinken und Kürbiskrapferln zu entdecken sind.

Leer gingen leider die beiden am mutigsten mit Sprache experimentierenden Beiträge aus. Miedya Mahmods lyrisch-verspielter, polyphoner und mehrsprachiger Poetry-Slam-Vortrag faszinierte zwar das Publikum, das hier den mit Abstand lautesten Applaus spendete, verlor dann aber bei der Preisvergabe in einer Stichwahl gegen Sebauer und Štajner.

Henrik Szántós beklemmende Erzählung aus der Sicht eines Hauses, das in der ersten Person Plural seine Bewohner adressiert, hätte den zweiten Platz (den mit 12.500 Euro dotierten Deutschlandfunk-Preis) eher verdient gehabt als Denis Pfabes Gewinnertext, der in einem Baumarkt spielt, einem „metaphysischen Ort, der das ganze Glück und Grauen menschlicher Existenz beinhaltet“, wie es der Juror Philipp Tingler auf den Punkt brachte. Andere Texte tendierten vor der unwirklich türkisfarbenen Kulisse des Wörthersees dazu, eine Ästhetik des Unschönen zu entwickeln. Bei Tamara Štajner bittet die Ich-Erzählerin die Mutter, ihre Muttermale mit Linien zu verbinden, bis sich eine neue Form darin offenbart.

Alle ausgezeichnet: Tamara Stajner, Johanna Sebauer, Tamara Tijan Sila und Denis Pfabe
Alle ausgezeichnet: Tamara Stajner, Johanna Sebauer, Tijan Sila und Denis Pfabe (von links)
Quelle: dpa

Mahmods performatives Sprachexperiment heißt „Es schlechter ausdrücken wollen“ und wurde von Juror Klaus Kastberger mit Ilse Aichinger und der Unmöglichkeit, nach 1945 noch schön zu schreiben, in Verbindung gebracht – ein akademischer Exkurs, den das sich sonst mit spontanen Wertungen eher zurückhaltende Publikum mit dankbarem Klatschen quittierte.

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Wie macht man einen Teilnehmer am effektivsten fertig, wie schadet man ihm am nachhaltigsten? Experten zur Beantwortung dieser Frage sind nicht nur Casting-Stars wie Heidi Klum und Dieter Bohlen. Auch der Bachmannwettbewerb hat etwas von einer Castingshow und gilt seit nun fast 50 Jahren als der Ort, an dem noch gar nicht begonnene literarische Karrieren zerstört und schon etablierte Erfolgsautoren auf die Plätze verwiesen werden. Immer mehr Verlage überlegen es sich daher doppelt und dreifach, ob sie ihre Schützlinge der Wettbewerbs-Hölle aussetzen wollen. Dieses Jahr fielen vernichtende Urteile wie „Die Sprache ist manchmal wie vom Lastwagen gefallen“ oder „Wurde der Text von einer KI geschrieben?“ Es wurden „Adjektiveritis“, „Ästhetisierungsüberdehnung“ und „Konservatismus“ beanstandet. Ein Besucher verriet sogar, in welchen ungeliebten Text er am Wörthersee seine nasse Badehose eingewickelt habe.

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Nur zwei Autorinnen nutzten die allen Teilnehmern gebotene Chance, auf die Jury-Diskussion über ihre Werke zu reagieren. Olivia Wenzel schob gelassen eine Erklärung ihres eigenen Textes hinterher, als gehörte sie selbst zur Jury. Und Christine Koschmieder machte darauf aufmerksam, warum die Veranstaltung nicht mehr „Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb“ heiße, sondern von Bachmanns Erben im Jahr 2000 aus Protest gegen die damalige FPÖ-Landesregierung von Kärnten in „Tage der deutschsprachigen Literatur“ umbenannt wurde. Die restlichen Teilnehmer zogen sich mit einem „Danke“ oder einem „I would prefer not to“ zurück.

Das Gute des dreitägigen Spektakels: Immer wieder werden grundsätzliche Fragen darüber, was interessante Literatur ausmacht, berührt: Wann bricht ein Text Tabus? Muss ein Text berühren oder kann er perfekt sein, obwohl er langweilt? Und schon länger gehört es dazu, nicht nur die Autoren, sondern auch die Juroren kritisch unter die Lupe zu nehmen. Doch ein wichtiger Teil der Veranstaltung wurde bislang vom Bewertungswahnsinn ausgespart: das Publikum. Dieses – eine Mischung aus Autoren, Verlegern, Lektoren, Agenten, Pressesprechern, Journalisten, Schulklassen und Kärntner Stammgästen – wurde dieses Mal jedoch selbst Gegenstand der Kritik: Tingler gefiel es nicht, dass das Publikum ausgerechnet bei einer theoretischen Ausführung Kastbergers applaudierte und wollte auch euphorische Zuschauerreaktionen nicht als Qualitätskriterium gelten lassen. In Klagenfurt bleibt niemand verschont.

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