Zwischen Baum und Borke. So metaphorisch eingeklemmt sitzt Teodor Currentzis, griechischer Dirigent mit russischem Pass, nun seit dem 24. Februar 2022 zwischen St. Petersburg und dem Rest der Welt. Hier hat er ein Proben- und Konzerthaus, wird mit seinem unabhängigen Orchester MusicAeterna freilich vom Kreml und ihm nahestehenden Institutionen gefördert und gesponsert. Und im Westen ist der 52-Jährige mit seiner durch die Umstände des russischen Krieges gegen die Ukraine erfolgten Klangkörperneugründung Utopia Orchester unterwegs, bei der man nicht so ganz genau weiß, wer als Finanzier alles dahintersteht.
Und Currentzis selbst, er schweigt – und musiziert weiter. Was für ihn wahrscheinlich das Beste ist. Zurückhaltend, ohne Show, unauffällig gekleidet, ganz auf die Musik konzentriert, so stand er neulich erst in der Berliner Philharmonie und führte mit Eleganz wie Emphase, mit großem Schwung und Detailfrickeligkeit durch das klassische Großformat von Benjamin Brittens War Requiem.
Wie vom Komponisten angeregt, singen ein deutscher Bariton, ein englischer Tenor und ein russischer Sopran die lateinische Liturgie und die Gedichte aus den Schützengräben des Wilfred Owen, der 1918 mit 25 Jahren eine Woche vor dem Waffenstillstand in Frankreich fiel. Es ist eine Erinnerungs- wie Versöhnungsmusik für die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs, uraufgeführt 1962 über den Trümmern der alten, von den Deutschen zerbombten Kathedrale von Coventry.
Und die Vokalstars Irina Lungu, Allan Clayton und Matthias Goerne machen das ganz wunderbar, zurückhaltend und doch innig. Der Konzertsaal als Kathedralersatz, wo in gedimmtem Licht die Lebenden eine durchaus weltliche Messe für die Toten vor einem ungewöhnlich diversen, fasziniert lauschenden, am Ende – nach langer Stille – mit Beifall nicht geizendem Publikum zelebrieren. Ganz besonders stark, das Podium fast überfüllend: die Laienvereinigung London Symphony Choir, das SWR Vokalensemble und ganz oben – die himmlischen Stimmen des Knabenchors Hannover.
Es ist die Abschiedstournee von Teodor Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester, jenem neufusionierten Klanghybrid aus Stuttgart, das er in den vergangenen sechs Jahren als erster Chefdirigent entscheidend geformt und vorwärts gebracht hat, das mit und dank ihm seither international auf Tourneen glänzte. Auch wenn dieser Glanz schon länger getrübt ist durch die Kriegsumstände, zu denen sich Currentzis einfach nicht äußern mag, vermutlich durch seine Zwangslage nicht äußern kann.
Das mag man ihm ankreiden, aber dann sollte man bitte auch die Programmwahl dieser letzten Tournee beachten. Sagt die nicht alles? Was soll er selbst diesem Stück noch hinzufügen? Auch wenn seine Gegner das natürlich wieder als Hypokrisie sehen wollen.
Ein freier Geist
Während er etwa von den Wiener Festwochen als Diskursgeschütz gegen die Ukrainerin Oksana Lyniv ausgespielt und wieder ausgeladen wurde. Lyniv hatte zuvor angekündigt, nicht in einem Currentzis-Kontext auftreten zu wollen. Der Wiener Pech wurde der Berliner Glück, dieser Auftritt war nämlich der Wiener Ersatztermin.
Was aber macht Teodor Currentzis künftig im Westen ohne das SWR-Orchester? Wo gegenwärtig kein weiterer Auftritt ansteht, wo man die ambivalente Angelegenheit einfach ausgesessen hat und wo man mit dem gegenwärtig aus ganz anderen Gründen diskreditierten François-Xavier Roth ab Herbst 2026 den nächsten Problemfall als Chefdirigenten hätte? Er macht einfach weiter – als freier Geist, nur sich selbst, seiner Musik und einem Publikum verpflichtet, das zum Glück selbst entscheiden kann, ob es ihn hören möchte.
Salzburgs verlängerter Festspielchef Markus Hinterhäuser hält ihm und dem Utopia Chor und Orchester die Treue. Ab dem 19. Juli stehen dort Bachs Matthäus-Passion und sechsmal „Don Giovanni“ als Wiederaufnahme an. Anschließend wird er im Oktober in Berlin, Baden-Baden und Hamburg Mahlers 9. Sinfonie aufführen, ab Ende Januar 2025 an der Opéra de Paris Rameaus „Castor et Pollux“ dirigieren und im April – wiederum in Berlin und Hamburg – mit Mahlers 4. Sinfonie und Brahms‘ 2. Klavierkonzert (Solist: der grandiose Alexandre Kantorow) gastieren.
Und wenn, wie jetzt beim „War Requiem“, immer noch ein bohrender Zweifel über die „Rechtmäßigkeit“ wie „Verhältnismäßigkeit“ eines Currentzis-Konzerts bleibt, wenn man nicht weiß, ob man bedenkentragend sich doch einfangen lassen kann vom Ernst dieser Musik und ihrer exzellenten Ausführung, ob man befangen, distanziert oder emotional gerührt reagiert – diese Klänge und die Situation, sie zwingen zu einer Haltung. Oder zumindest zur genaueren Reflexion, zur Positionsbestimmung. Kann man in solchen Zeiten von Klassik mehr erwarten?
So wird ausgerechnet der sonst so wilde, sich verausgabende Teodor Currentzis augenblicklich zu einem strengen Exekutor nur der Noten. Weil er sonst nichts zu sagen hat. Aus welchen Gründen auch immer.