Manche Gedichte muss man nicht auswendig lernen. Die Leichtigkeit, die sie versprühen, ist so willkommen, dass wir ihr ganz automatisch einen Platz in unserer inneren Bibliothek einräumen. Einmal gehört, gehen sie uns nie mehr aus dem Sinn und zaubern uns ganz plötzlich ein Lächeln ins Gesicht. Ringelnatzs Ode an die „Morgenwonne“ gehört unbedingt dazu.
Und das liegt ganz sicher auch an der Mahlzeit, die er so verführerisch besingt: „Ich bin so knallvergnügt erwacht. Ich klatsche meine Hüften. Das Wasser lockt. Die Seife lacht. Es dürstet mich nach Lüften. ... Aus meiner tiefsten Seele zieht mit Nasenflügelbeben ein ungeheurer Appetit nach Frühstück und nach Leben.“
Frühstück. Nicht jeder muss so versessen darauf sein wie Joachim Ringelnatz in seinen 1932 gereimten Zeilen. Und auch nicht jeder bekommt so bald nach dem Aufstehen schon etwas runter. All jene aber, die meinen, zehn Minuten für den Kaffee am eigenen Küchentisch sind morgens nicht drin und deshalb beim Sprint zur U-Bahn einen überteuerten Latte-To-Go in sich hineinschütten, sollten wirklich noch mal in sich gehen. Oder Ringelnatz lesen.
Denn sie berauben sich nicht nur eines besonderen Vergnügens, sondern tragen auch zu einer dramatischen Entwicklung bei: Dem Bedeutungsverlust einer kulinarischen Tradition, die längst einen Platz auf der Liste des Unesco-Kulturerbes verdient hat.
Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa aus dem Jahr 2022 verzichtet schon jeder fünfte Deutsche zwischen 18 und 34 Jahren komplett auf ein Frühstück. In der Altersgruppe der 35- bis 49-Jährigen sind es sogar 23 Prozent. Betroffen sind vor allem Menschen, die morgens zur Arbeit gehen.
Die Hektik am Morgen ist für den Kulturanthropologen und Volkskundler Gunther Hirschfelder, 62, nur ein Grund dafür, dass das Frühstück immer stärker an alltagskultureller Bedeutung verliert. Der Professor für Vergleichende Kulturwissenschaften an der Universität Regensburg sieht die Ursache in den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen. In einem Land, in dem 41 Prozent aller Haushalte von Singles bewohnt werden, würden die dem klassischen Familienleben entsprungenen Traditionen zwangsläufig an Bedeutung einbüßen.
Aber auch dort, wo mehrere Personen unter einem Dach leben, Eltern und Kinder und andere Lebensgemeinschaften, dort also, wo man sich noch gemeinsam am Tisch versammelt, durchlebe die Frühstückskultur einen deutlichen Wandel. „In meiner Kindheit“, so Hirschfelder, „war es allgemein üblich, dass sich die ganze Familie zu den Mahlzeiten gemeinsam hinsetzte.“
Regeln dieser Art habe die Gesellschaft mit der Jahrtausendwende zunehmend aufgegeben. Befördert wurde diese Entwicklung auch durch sich wandelnde Arbeitszeiten. „Die Leute gehen zeitversetzt aus dem Haus, manche sind im Homeoffice. Es bürgert sich immer mehr das Ende von Verbindlichkeit ein“, sagt Hirschfelder.
Mit den alten Frühstückssitten gehe aber nicht nur ein Stück Nestwärme verloren, sondern auch ein Sammelsurium von Gesetzen, das als bedrückend empfunden wurde. „Man mampfte nicht gleich los“, erinnert sich Hirschfelder an seine eigene Kindheit, „sondern wartete, bis alle da waren.“ Als Kind hätte man sich außerdem gehütet, zuerst von einem Aufschnitt zu nehmen und schon gar nicht gleich mehrere Scheiben. „Das klassische Familienfrühstück war immer ein Ort der Erziehung und der Hierarchien“, sagt er. „Insofern ist die Auflösung der alten Struktur auch Ausdruck von Freiheit.“
Wie gut, dass auf der postmodernen Frühstücksgesellschaft im Allgemeinen nicht mehr die Schwere einer Autorität lastet, die den weniger Lauten oder den Jüngeren den Appetit verschlägt. Keine Sprüche mehr wie: „Kinder bei Tische sind stumm wie die Fische!“ oder: „Sitzen bleiben, bis der Teller leer ist!“. Oder: „Solange Du Deine Füße unter meinem Tisch stellst, machst Du, was ich sage!“
Doch der befreite Frühstückstisch hat seine eigenen Herausforderungen, die auch nicht so einfach sind. Nachwuchs, der sich strikt weigert, wenigstens beim Essen mit dem Daddeln am Handy aufzuhören, ist nur eine davon. Für Gunther Hirschfelder sorgt heute vor allem ein Thema für Zündstoff am Frühstückstisch: der individuelle Ernährungsstil.
Brot, Butter, Marmelade, Wurst, Käse, Kaffee und Tee – all die Standardzutaten werden heute von verschiedenen, oftmals außergewöhnlichen Snackelementen abgelöst. Diese aber würden nicht nur individuelle Geschmäcker bedienen, sondern zunehmend auch zum weltanschaulichen Bekenntnis.
Da ist etwa die Tochter, die nur noch Hafermilch trinkt, weil Kuhmilch ihrer Überzeugung nach den Kälbern vorbehalten bleiben soll. Oder der Sohn, für den das Frühstücksei zum Symbol ausbeuterischer Massentierhaltung geworden ist. „Ernährung“, so Hirschfelder, „wird als kommunikatives Medium in Stellung gebracht, als Ausweis von Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeit. Das birgt am Frühstückstisch Konfliktpotenzial.“
Torpediert wird das klassische Frühstück aber auch von anderer Seite, und zwar von höchster Stelle: von der Ernährungswissenschaft selbst. So verbreitete der britische Biochemiker Terence Kealey eine beängstigende Botschaft. In seinem 2017 erschienenen Buch: „Breakfast is a Dangerous Meal“ warnte er, die frühe Mahlzeit könnte Fettleibigkeit, Bluthochdruck und Diabetes auslösen.
Ein Jahr später hingegen veröffentlichte das Deutsche Diabetes Zentrums eine Studie, die zu dem Schluss kam, dass gerade das Auslassen des Frühstücks bei Erwachsenen das Risiko erhöhe, an der Stoffwechselstörung zu erkranken. Eine Studie der Harvard School of Public Health in Boston ergab wiederum, dass speziell bei Männern nach einem reichhaltigen Abendessen der Verzicht auf ein Frühstück das Risiko für Herzgefäßerkrankungen erhöhen könnte.
Der Streit um die Frage, ob das Frühstück dem Körper guttut oder nicht, tobt weiter. Bekennende Intervallfaster, die längere Essenspausen einlegen und deshalb auf ihr Frühstück verzichten, loben den guten Effekt auf ihr Diätprogramm. Es gibt allerdings auch eine Reihe von Langzeituntersuchungen, die zeigen, dass Erwachsene, die in ihrer Kindheit nicht regelmäßig gefrühstückt haben, häufiger unter Übergewicht und erhöhtem Blutzucker leiden.
Für die Wissenschaftler ist nicht unbedingt das ausgelassene Frühstück in der Kindheit die Ursache für zu viel Pfunde im Erwachsenenalter, sondern eher eine generelle Haltung der Eltern zu Ernährung. Denn Mütter und Väter, die dafür sorgen, dass ihr Kind möglichst nicht ohne Frühstück aus dem Haus geht, würden generell eher auf eine ausgewogene Ernährung achten und zum Sport animieren.
Allen Diskussionen um die erste Mahlzeit am Tag zum Trotz bleibt eines unbestritten: Das Frühstück kann etwas Wunderbares sein. Ein Lebenselixier. Ein Stück Geborgenheit. Gemeinschaft. Kaum verwunderlich, dass solch eine Errungenschaft auch seine besonderen kulturellen Spuren hinterlassen hat.
Das Bild des französischen Fotografen Robert Doisneau von 1952, das Pablo Picasso am Tisch mit aus Frühstückshörnchen stilisierten Händen zeigt, gehört zu den originellsten Beispielen. Die französischen Impressionisten – wie Pierre-Auguste Renoir in seinem 1881 veröffentlichten „Frühstück der Ruderer“ – entdeckten in ihm ein Sujet, das ihrer Vorliebe für das Spiel mit Licht und Leichtigkeit besonders entgegenkam.
Ohne die feinen Porzellantassen, Teller und Kannen, die seit dem 18. Jahrhundert in Manufakturen wie in Meißen entstanden, hätte Europas höfische Gesellschaft das Frühstück nicht zum exklusiven Ritual erheben können. Die edlen Gefäße füllten sich mit den exotischen Getränken, die im Zuge der sich ausweitenden Handelsbeziehungen in Mode kamen und das Frühstück quasi zur ersten globalisierten Mahlzeit machten.
Kaffee, Tee und Kakao. Die erhitzten Flüssigkeiten waren natürlich nur den Wenigen vorbehalten, die sie sich leisten konnten. Wobei man der heißen Schokolade, die erst im 20. Jahrhundert zum Getränk für Kinder wurde, noch eine besondere erotisierende Wirkung nachsagte. Casanova jedenfalls schwor auf den verführerischen Effekt und servierte sie den Objekten seiner Begierde nicht nur zum Frühstück.
Andere Verführer und Verführerinnen wissen indes, wie wichtig gerade das Frühstück für ein anständiges Liebesleben ist. Nicht zuletzt deshalb, weil es der Person, mit der man die Nacht verbrachte, Respekt zollt.
Einer, der das sehr treffend zum Ausdruck brachte, war Kurt Tucholsky mit seiner Liebeserklärung an das frühe Mahl zu zweit. „Stell auf den Tisch das braune Kaffeekännchen und rück mir näher, dickes Ännchen! Die Sonne scheint, die Vöglein pfeifen, man kann dich mollig in die Backen kneifen. Wie schmeckt das Frühstück Mund an Munde! Dies ist des Tages schönste Stunde.“
Wenn das kein Grund ist, das Frühstück zu retten!
Dieser Artikel wurde erstmals im Februar 2024 veröffentlicht.