Am Anfang war vor allem Häme: Es gehe um „eine Geister-Truppe, die bei der Abwehr von Terroristen Wunder wirken soll“, schrieb das Magazin „Der Spiegel“ in seiner Ausgabe vom 25. September 1972. Da war die Initiative von Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher gerade einmal vier Tage alt. Der FDP-Politiker hatte aus dem Desaster beim palästinensischen Terroranschlag auf München gefolgert, dass die Bundesrepublik eine eigene Anti-Terror-Gruppe brauche. Am 21. September präsentierte er seinen Plan den Innenministern der Länder, am 26. September 1972 erging der Aufstellungsbefehl.
Wie kaum ein Historiker sonst hat sich Harald Biermann mit der GSG9 befasst. Hauptberuflich leitet er als Präsident die Stiftung Haus der Geschichte in Bonn, neben dem Deutschen Historischen Museum das zweite nationale Geschichtsmuseum mit Dependancen in Leipzig und Berlin. Nebenbei hat der 1966 geborene Wahl-Rheinländer 2017 die Memoiren von GSG9-Gründer Ulrich K. Wegener herausgegeben und mit viel zusätzlichem Material ergänzt.
WELT: Wie genau kam es nach München 1972 zur Entscheidung, eine deutsche Antiterror-Einheit aufzubauen?
Harald Biermann: Bundesinnenminister Genscher und sein Verbindungsoffizier beim Bundesgrenzschutz Ulrich Wegener waren unmittelbare Augenzeugen des Münchener Massakers. Beide beobachteten das totale Versagen beim Zugriff auf den Flughafen Fürstenfeldbruck vom Tower aus. Und beide sahen, wie die Geiseln starben. Beide waren von diesem vollständigen Fehlschlag tief erschüttert. Aus dem Gefühl dieser völligen Ohnmacht schlug Wegener dem Minister vor, eine Spezialeinheit aufzubauen. Sie sollte in der Lage sein, Geiseln zu befreien und aktiv den Terrorismus zu bekämpfen. Das war die Geburtsstunde der GSG9. Der Aufstellungserlass datiert auf den 26. September 1972 – kaum drei Wochen nach dem Desaster in Fürstenfeldbruck.
WELT: Am Anfang überwog zumindest in der linksliberalen Presse die Kritik an der Spezialeinheit, auch von der „Killertruppe des Ministers“ war die Rede. Wie hat Ulrich Wegener das wahrgenommen?
Biermann: Wegener sah die Gefahr, die solchen Charakterisierungen innewohnte. Er hatte stets ein hohes Maß an geschichtlichem Bewusstsein, wusste also um die langen Schatten des Dritten Reichs und des Zweiten Weltkriegs. Zudem war er vollständig von der Richtigkeit des eingeschlagenen Kurses überzeugt. Schon Ende Oktober 1972 war er nach Israel gereist, um das Handwerkszeug der dortigen Spezialeinheiten zu erlernen. Er war sich sicher, dass ein solcher Verband auch in der Bundesrepublik aufgebaut werden könnte. Auch konnte sich der erste Kommandeur der GSG9 der politischen Rückendeckung durch Genscher sicher sein
WELT: Mit dem Erfolg von Mogadischu 1977 änderte sich die Wahrnehmung der GSG9 fast schlagartig – oder trügt dieser Eindruck?
Biermann: Ihr Eindruck ist völlig zutreffend. Mogadischu veränderte alles. Die Befreiung der Landshut war ein Triumph – nicht nur für Bundeskanzler Helmut Schmidt, sondern auch für die GSG9. Der Staat hatte bewiesen, dass er auch in schwierigsten Situationen handlungsfähig war. Wenn es Politiker vom Format Schmidts gab, dann konnte das schärfste Schwert der Bundesregierung erfolgreich eingesetzt werden.
WELT: Das heißt?
Biermann: Die GSG9 eröffnet bis heute Handlungsoptionen in krisenhaften Lagen. Im Falle von staatsgefährdendem Terrorismus oder Geisellagen ist die GSG9 die ultima ratio. Oder, wie der aktuelle Kommandeur Jerôme Fuchs sagt: „Nach uns kommt niemand mehr!“
WELT: Die von der GSG9 aus der Hand von Terroristen befreite Lufthansa-Boeing „Landshut“ soll in einem neuen Museum in Friedrichshafen gezeigt werden. Warum nicht in Bonn? Immerhin fielen hier, fast genau gegenüber Ihrem Museum im damaligen Kanzleramt, die wesentlichen Entscheidungen im Deutschen Herbst 1977?
Biermann: Die Rückholung des Wracks der „Landshut“ aus Brasilien im Bundestagswahlkampf 2017 war eine Idee von Außenminister Sigmar Gabriel. Der gewünschte politische Effekt hat sich – wie wir wissen – nicht eingestellt. Seither liegt das Wrack in Friedrichshafen. Die Maschine ist in einem desolaten Zustand, der kaum noch an die „Landshut“ des Jahres 1977 erinnert. Die Stiftung Haus der Geschichte kann ein Objekt dieser Größe nicht in seine Dauerausstellung integrieren. Eine Einbettung der Befreiung der Maschine in die deutsche Nachkriegsgeschichte ist aber unbedingt erforderlich, um die Geschichte des Kampfes gegen den Linksterrorismus in den 1970er-Jahren einordnen und verstehen zu können.
WELT: Welchen Stellenwert haben die GSG9 und ihr Kampf gegen den Terror für die Geschichte der Bundesrepublik insgesamt?
Biermann: Die Geschichte der Bundesrepublik wäre anders verlaufen, wenn Ulrich Wegener die GSG 9 nicht aus der Taufe gehoben hätte. Warum hätte die RAF ihren mörderischen Wahnsinn beenden sollen, wenn es aufseiten des Staates keine deutliche Verbesserung der Terrorismusbekämpfung gegeben hätte? Was wäre passiert, wenn Bundeskanzler Schmidt die Forderungen der Landshut-Geiselnehmer erfüllt hätte? Oder: Schmidt hätte mit normalen Kräften stürmen lassen. Die Folge: Fürstenfeldbruck hoch zwei! Schmidt wäre am nächsten Tag zurückgetreten.
WELT: Ihre Bilanz über 50 Jahre GSG9?
Biermann: Es ist wichtig, über eine leistungsstarke Spezialeinheit wie die GSG9 zu verfügen. Das jeweilige Gegenüber weiß, dass der Staat in jeder Lage handlungsfähig ist – notfalls mit massiver, todbringender Gewalt.
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