Die Falle war gestellt, und zwar mitten in Frankfurt, vis-à-vis dem Hauptfriedhof. Am 25. Mai 1972 hatte ein Mann dort die Polizei angerufen. „Ich wollte Ihnen einen Hinweis geben!“, sagte er zum Wachhabenden: „Hier werden so viele Gasflaschen transportiert, und die jungen Leute fahren auffällig schwere Wagen.“ Der Beamte notierte: „Verdächtige Wahrnehmungen in der Umgebung des Hauses Hofeckweg 2-4.“
Gasflaschen und junge Leute mit schweren Wagen – das genügte, um den Hinweis zu überprüfen. Denn seit zwei Wochen erschütterte die linksextreme Terrorgruppe Rote-Armee-Fraktion (RAF) mit Bombenattentaten die Bundesrepublik. Sechs Anschläge hatte es in Frankfurt, Augsburg, München, Karlsruhe, Hamburg und Heidelberg schon gegeben, mit vier Toten und weit mehr als 100 zum Teil lebensgefährlich Verletzten. Und mehrfach hatten dabei Gasflaschen als Hüllen für Bomben gedient, immer waren junge Leute die Täter gewesen.
Der Hinweis war das Ergebnis einer ungewöhnlichen Taktik, die der Chef des Bundeskriminalamts (BKA), Horst Herold, wegen der Attentatsserie gegen Bedenkenträger in der Politik und bei den Polizeibehörden der Länder durchgesetzt hatte: Für einen Tag, den 31. Mai 1972, waren ihm praktisch alle uniformierten Polizeibeamten der Bundesrepublik unterstellt worden.
Er setzte 16.000 Mann zu flächendeckenden Fahrzeugkontrollen auf Hauptverbindungsstraßen ein. Über Autobahnkreuzen drehten demonstrativ alle verfügbaren Polizeihubschrauber Schleifen. Am Abend gab das BKA im „ZDF-Magazin“ Details über die „Arbeitsweise der Baader-Meinhof-Bande bekannt“ und forderte „die Bevölkerung zur Mithilfe bei der Fahndung nach Terroristen auf“.
Herold ging es aber gar nicht um direkte Fahndungserfolge der Großaktion an diesem Mittwoch – und so war er auch, anders als seine Kritiker, am Abend des 31. Mai 1972 keineswegs enttäuscht, als zwar einige gesuchte Kriminelle festgenommen worden waren, aber kein Terrorist. Der BKA-Chef wollte vielmehr „aufs Wasser schlagen“, um die „versteckten Fische zum Schwimmen zu bringen“, wie er Vertrauten erklärt hatte. Die eigentliche Falle war gestellt – mitten in Frankfurt, eben genau gegenüber dem Hauptfriedhof.
Diskret nämlich hatten die Ermittler nach dem Hinweis des Anwohners herausgefunden, dass ein gewisser „Gerhard Allemann“ am 31. Januar 1972 eine der vier hofseitigen Garagen des modernen Apartmenthauses im Hofeckweg gemietet hatte: ein falscher Name. Das reichte für einen Durchsuchungsbeschluss.
Dabei fanden getarnt tätige Kriminalbeamte in der Garage unter anderem einen Kunststoffeimer mit neun bis zehn Kilogramm eines von der RAF benutzten, selbst hergestellten Sprengstoffgemisches, ferner das abgeschraubte Typenschild mit der Seriennummer einer Gasflasche, die nachweislich beim Anschlag im US-Hauptquartier im Frankfurter Westend explodiert war. Außerdem stand dort ein gestohlener Sportwagen der italienischen Luxusmarke Iso Rivolta, in dem zwei klare Fingerabdrücke von Andreas Baader gesichert werden konnten. Kein Zweifel: Dies war ein Lager der RAF.
Sofort organisierte die Sonderkommission eine Observation der Garage rund um die Uhr. Die graue Sprengstoffmischung wurde durch ähnlich aussehendes Knochenmehl ersetzt, das ungefährlich war. Außerdem installierten Beamte ein Mikrofon. Am Abend des 31. Mai luden sogar noch als Mitarbeiter des Gartenbauamtes verkleidete Kripobeamte Torfballen in gelber Folie auf dem Garagenhof ab – sie sollten bei einer möglichen Schießerei als Deckung dienen.
Lange warten mussten die Ermittler nicht. Sie wussten aus der Befragung von Nachbarn, dass die Nutzer der Garage oft frühmorgens kamen und dann ein „reges Kommen und Gehen“ herrschte. Tatsächlich raste am 1. Juni 1972, Fronleichnam, gegen 5.50 Uhr morgens ein auberginefarbener Porsche Targa verkehrt herum durch eine Einbahnstraße vor das Haus im Hofeckweg. Drei junge Männer stiegen aus; zwei gingen in die Garage, der dritte blieb als Wache vor dem Haus stehen.
Sofort näherten sich bereitstehende Beamte und wollten den Wachposten überwältigen, der aber einen Revolver zog, mindestens dreimal feuerte und zu flüchten versuchte. Schon nach wenigen Metern wurde er gestellt, entwaffnet und festgenommen. Auf Anhieb konnten die anwesenden Mitglieder der Frankfurter Terrorsonderkommission ihn jedoch nicht identifizieren. Seit der Ankunft der drei Männer im Porsche Targa waren fünf Minuten vergangen.
Die Schüsse hatten die beiden anderen in der Garage gewarnt. Sie verschanzten sich und feuerten durch die Tür, obwohl sie davon ausgehen mussten, dass in dem Eimer ihr selbst gemischter Sprengstoff lag, der durch Kugeln hätte gezündet werden können. Zumindest nahmen sie in Kauf, dass die Ladung explodierte und das Wohnhaus darüber zum Einsturz bringen würde.
Gegen 6.20 Uhr warfen Polizeibeamte durch die Lüftung vier Tränengasgranaten in die Garage, kurz darauf öffnete sich einer der Torflügel auf der anderen Seite, und die Granaten flogen heraus auf den Hof. Daraufhin schoben die Beamten einen Wagen vor die Garage, der ein erneutes Öffnen des Tores unmöglich machte; wenig später landeten weitere Tränengasgranaten in der Lüftung.
Um den beiden Männern in der Garage die Aufgabe zu ermöglichen – und ihr Leben nicht zu gefährden –, zogen die Polizisten den Dienstwagen nach einigen Minuten mit einem Seil vom Tor weg. Doch statt aufzugeben, wie der Einsatzleiter per Megafon gefordert hatte („Ihre Chance ist gleich null“), flogen nur kurz die Tore auf, und die Tränengasschwaden zogen ab. Im Hofeckweg herrschte ein Patt.
Einer der beiden Eingeschlossenen, mit blond gefärbtem Haar und Backenbart, rauchte am Spalt des Garagentors eine Zigarette. Dabei traf ein Scharfschütze der Polizei ihn im Oberschenkel; er brach zusammen und kroch in die Garage zurück.
Wenige Minuten später signalisierte der andere, aufgeben zu wollen. Genau wie von der Polizei verlangt, zog sich der sehr hagere Mann bis auf die Unterhose aus, warf seine Pistole heraus und ging mit erhobenen Händen auf die Polizisten zu, die ihn sofort festnahmen. Daraufhin wurde auch der Verletzte aus der Garage geborgen, von vier Beamten mit kugelsicheren Westen und Gasmasken. Die beiden Festgenommenen wurden aufgrund ihres Äußeren sofort als Holger Meins und Andreas Baader identifiziert, der vor ihnen verhaftete Wachposten später mithilfe seiner Fingerabdrücke als Jan-Carl Raspe.
Die Operation „Wasserschlag“ hatte sich keine zwölf Stunden nach ihrem Ende doch noch als voller Erfolg erwiesen: Der Fahndungsdruck hatte Baader, Meins und Raspe dazu gebracht, aus ihrem noch unbekannten Hauptquartier zum Lager im Hofeckweg zu fahren.
Sehr lange hätte die verdeckte Observation rund um die Uhr nicht aufrechterhalten werden können, ohne dass Gerüchte aufgekommen wären. BKA-Chef Horst Herold variierte seine gelungene Taktik: Die Dreifachfestnahme von Frankfurt wurde mit Unterstützung durch vermeintlich durchgestochene, in Wirklichkeit bewusst von der Polizei lancierte Informationen groß in Fernsehen und Radio, Zeitungen und Zeitschriften verbreitet. Selbst das Magazin „Der Spiegel“ tauschte die Titelgeschichte seiner nächsten Nummer am 5. Juni 1972 noch aus. „Gefasst: Baader“ prangte auf dem Cover.
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