Die Falle sollte am 15. Juli 1971 zuschnappen. Es war der 427. Tag der Fahndung nach Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und weiteren Mitgliedern der Terrorgruppe Rote-Armee-Fraktion. Seit Anfang Mai war sich das Bundeskriminalamt ziemlich sicher, dass ein Teil der Gruppe in Hamburg und Umgebung untergetaucht war: Beamte waren nach der Festnahme der Linksextremistin Astrid Proll auf eine konspirative Wohnung nahe der Außenalster gestoßen, in der sich auch Fingerabdrücke der Anführer fanden.
Also wurde für diesen Donnerstag eine Großaktion vorbereitet: Mehr als 3000 Polizisten sollten an Straßensperren in ganz Norddeutschland ausgerüstet mit Maschinenpistolen und Tränengas, Funkgeräten und schusssicheren Westen den Autoverkehr kontrollieren. Besonders zu achten hatten die Beamten auf schnelle Autos mit mindestens zwei jungen Insassen, gleich welchen Geschlechts. Zusätzlich sollte jeder BMW überprüft werden, denn diese Marke bevorzugten die RAF-Mitglieder – so sehr, dass die Abkürzung im Volksmund bereits mit „Baader-Meinhof-Wagen“ aufgelöst wurde.
Es war der richtige Ansatz. Gegen 14.15 Uhr näherte sich ein blauer BMW 2002, ein kaum mehr als zwei Jahre altes, starkes Modell, auf der Von-Sauer-Straße in Hamburg-Bahrenfeld einer Polizeikontrolle. Am Steuer saß eine junge Frau mit blonden Haaren, neben ihr ein junger Mann mit dunklen Locken und Bart. Als die Beamten die Stoppkellen hoben, drückte die Fahrerin aufs Gas.
Nur wenige hundert Meter später hatten zwei Funkwagen den BMW eingeholt, einer überholte und stellte sich auf der Straße quer. Die beiden jungen Leute bremsten, sprangen aus dem Wagen und flüchteten zu Fuß weiter. Zumindest die Frau schoss dabei aus einer Pistole des belgischen Modells FN, eventuell der Mann ebenfalls.
Dann trennten sich die beiden Verfolgten, doch inzwischen näherte sich ein Polizeihubschrauber. Der Bärtige versuchte, sich auf einer Baustelle zu verstecken, wurde aber umzingelt und ergab sich bald darauf – seine Waffe hatte Ladehemmung. Anders die Frau: Obwohl in die Enge getrieben, schoss sie weiter. Auch, als ein Polizist rief: „Mädchen, mach’ keinen Quatsch, gib auf!“ Sekunden darauf traf sie eine Kugel aus der Maschinenpistole eines Beamten unter dem linken Auge. Notwehr, keine Frage.
Zuerst meldete eine Nachrichtenagentur, bei der Toten handele es sich um Ulrike Meinhof, doch das war ein übereilter Schluss: Sie war höchstens Anfang zwanzig, aber keinesfalls Ende dreißig wie die 1934 geborene ehemalige Journalistin. Relativ schnell konnte die Polizei die wahre Identität feststellen: Es handelte sich um die 20-jährige Friseuse (das Wort Friseurin war 1971 noch völlig unüblich) Petra Schelm.
Ihr festgenommener Begleiter wiederholte auf Fragen zu seiner Person und zur Sache immer nur stereotyp: „Arschlöcher, miese Bullen!“ So dauerte es etwas, bis er als der 22 Jahre alte Werner Hoppe aus Hamburg identifiziert werden konnte – im Gegensatz zu Schelm (Haftbefehl BGs 159/71) stand er zu dieser Zeit noch auf keiner Fahndungsliste.
Der BMW war in der Silvesternacht 1970/71 in West-Berlin gestohlen und mit dem gefälschten Kennzeichen HH-RH-285 ausgestattet worden, das tatsächlich für einen baugleichen blauen BMW 2002 ausgegeben worden war. Auf diese Art tarnten RAF-Terroristen ihr Fahrzeug: Die Wahrscheinlichkeit, dass das echte und das so getarnte Fahrzeug nebeneinander auftauchten, war bei seinerzeit schon mehr als 14 Millionen Autos in der Bundesrepublik äußerst gering.
Schelm gehörte, unter dem RAF-internen Namen „Prinz“, schon von Beginn an zum engsten Kreis der Baader-Meinhof-Bande, denn ihr Freund war der Student Manfred Grashof. Sie hatte ihn sogar ihren Eltern vorgestellt und wollte die Erlaubnis zur Heirat vor ihrer eigenen Volljährigkeit (damals 21 Jahre, erst seit 1975 mit 18). Doch ihr Vater lehnte ab. Petra und ihr Freund waren aufgestanden, und er hatte sie niemals lebend wiedergesehen.
Fortan wohnte sie in einer Kommune in der West-Berliner Bleibtreustraße und betätigte sie sich in der „Anarchistenfraktion“ des ohnehin schon linken Arbeitskreises „Mieten und Wohnen“ im West-Berliner Märkischen Viertel – hier trat Ende 1969 auch Ulrike Meinhof auf. Seit der gewaltsamen Befreiung von Andreas Baader unter anderem durch Meinhof am 14. Mai 1970 war die junge Friseuse untergetaucht.
„Der Baader Meinhof Komplex“
Vorgeschichte und Aktionen der linksterroristischen Rote-Armee-Fraktion (RAF) sind Thema des Spielfilms „Der Baader Meinhof Komplex“ von Uli Edel aus dem Jahr 2008. Das Drehbuch der aufwendigen Produktion verfasste Produzent Bernd Eichinger.
Quelle: Constantin Film
Den Polizisten gab die Gewaltbereitschaft vor allem der weiblichen RAF-Mitglieder Rätsel auf. Ein führender Fahnder sagte hilf- und ratlos zu WELT, das sei „etwas Irrationales“. Er vermutete, es handele sich um einen „Exzess der weiblichen Emanzipation“. Jedenfalls mussten die Behörden fortan umgehen mit der „absoluten Entschlossenheit, bis zum bitteren Ende mit der Pistole zu gehen“.
Petra Schelms Lebenslauf verriet nichts darüber, was dieses Mädchen aus geordnetem, kleinbürgerlichem Hause in Berlin-Spandau dazu brachte, obschon von schwer bewaffneten Polizisten umstellt, nicht sofort aufzugeben. „Petra hat Illusionen gehabt, aber keine Pläne“, versucht der Vater Adolf Schelm im Nachhinein den Weg seiner Tochter in die Illegalität zu deuten. Für ihn war es „ein Generationskonflikt wie in hunderttausend anderen Familien auch“.
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Wenige Wochen zuvor hatte es in der ausführlichsten Botschaft der RAF aus der Illegalität, dem „Konzept Stadtguerilla“, noch geheißen: „Wir schießen, wenn auf uns geschossen wird.“ Doch Petra Schelm schoss ohne jeden Zweifel selbst zuerst auf die Polizisten. Insofern zeigte schon die erste tote Terroristin auf deutschem Boden den ganzen Widersinn des linksextremen Amoklaufs gegen den Rechtsstaat.
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