Der Weg vom Dandy zum Desperado ist mitunter kurz. Wer im Mittelpunkt stehen will, unbedingt die Aufmerksamkeit anderer Menschen anstrebt, kann dazu ebenso äußerlich auffallen wie durch seine Taten. Vielleicht an niemandem wird das so deutlich wie an Andreas Baader, einem der beiden Namensgeber der berüchtigten Baader-Meinhof-Gruppe.
Posthum sei er eine „Art Negativstar der Mediengesellschaft“ geworden, schreibt der Hamburger Politologe Wolfgang Kraushaar. Aber auch in Wirklichkeit, in der Zeit des „roten Jahrzehnts“ zwischen 1967 und 1977, sei Baader immer weiter aufgestiegen, von einer Randfigur des linksextremen Flügels der westdeutschen Studentenbewegung zur Zentralfigur einer terroristischen Organisation.
Unter anderem diese Entwicklung zeichnet Kraushaar, unbestritten einer der besten Kenner des deutschen und internationalen Linksterrorismus, in seinem neuen Buch „Die blinden Flecken der RAF“ nach. Der Band ist keine systematische Untersuchung der RAF und will das auch gar nicht sein – das haben andere Autoren wie etwa der Jurist Butz Peters besser gemacht.
Kraushaar geht es um die detaillierte Analyse einiger für den Amoklauf der drei (oder dreieinhalb, je nachdem, wie man rechnet) RAF-Generationen wichtiger Aspekte, die gewöhnlich eher übersehen werden. Dazu zählt die Bedeutung der Vergangenheitsverweigerung, der „Schuldabwehr“ unter anderen beim RAF-Mitgründer und heutigen vielfach verurteilten Rechtsextremisten Horst Mahler. Außerdem die Rolle der Frauen in der Terrorgruppe und eben das „Faszinosum Militanz“ .
Karl Marx, auf den sich alle Linksterroristen zumindest indirekt bezogen, hielt Gewalt für typisch in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften. Lenin hingegen, der Anführer der russischen Bolschewiki, sah in ihr ein legitimes Instrument in den Händen einer revolutionären Kaderorganisation: „Die Herrschaft des bürgerlichen Staates ohne Gewaltanwendung zu überwinden erschien ihm undenkbar“, schreibt Kraushaar und folgert zutreffend: „In dieser Auffassung liegen bereits die Wurzeln für die Etablierung der Sowjetunion als einem auf exzessiver Gewalt basierenden Regime.“
Über den französischen Journalisten Régis Debray, einen engen Freund des Berufsrevolutionärs Che Guevara, kam eine positive Vorstellung von Militanz nach Mitteleuropa. Debray schrieb in einem 1967 auf Deutsch veröffentlichten Buch: „Man bekämpft die Bourgeoisie nicht siegreich auf dem Gebiet der Wahlen.“ Bewaffnete Gruppen müssten die Initiative ergreifen und gegen den Staat kämpfen. Gerade dadurch würden sie sich als „Avantgarde“ erweisen.
Interessanterweise war es der Wortführer der westdeutschen Studentenbewegung, Rudi Dutschke, der diese Gedanken aufgriff und schon 1966, wie Kraushaar nachweist, von einer „Stadtguerilla“ zu schwärmen begann; genau diesen Begriff machten sich später die Terroristen der Baader-Meinhof-Gruppe zu eigen. Für Dutschke sollten von Universitäten aus „kleinste homogene Guerillaeinheiten“ ihren Kampf beginnen; Ziel sei ein „urbaner militärischer Apparat“.
Übrigens gibt es immer noch Linke, die Dutschke ob seiner vermeintlichen Friedfertigkeit einen „jesuanischen Menschen“ nennen. Das Gegenteil ist richtig: Vermutlich wäre er zu einem Terroristen geworden, hätte ihn nicht ein junger Rechtsextremist im April 1968 niedergeschossen und schwer verletzt.
Gewalt auf den Straßen hatte es auch in den ersten knapp zwei Jahrzehnten der Bundesrepublik gelegentlich gegeben, aber 1967/68 erreichte sie eine neue Dimension. Der tödliche Schuss eines West-Berliner Polizisten auf den Demonstranten Benno Ohnesorg führte zu einer Radikalisierung der Linken. Vielleicht wäre sie ausgeblieben, wenn man damals schon gewusst hätte, dass der Täter ein Spitzenagent der DDR-Staatssicherheit war?
Man wusste es nicht, und so wurde die Erregung der späten 60er-Jahre zum Sprungbrett einiger weniger Splitter der Studentenbewegung hin zur Militanz. Dabei spielten einzelne Personen, die nach einer herausgehobenen Position im Kreise ihrer Alters- und Gesinnungsgenossen strebten, eine entscheidende Rolle.
Etwa der Kommunarde Dieter Kunzelmann, aus dessen Umkreis nach Kraushaars Erkenntnissen das Attentat auf das West-Berliner Jüdische Gemeindehaus vorbereitet wurde, das am 9. November 1969 glücklicherweise durch einen technischen Defekt am Zünder misslang. Oder der kürzlich verstorbene Linksterrorist „Bommi“ Baumann, der schon unmittelbar nach dem Attentat auf Dutschke eine Terroroffensive hatte beginnen wollen. Oder eben Andreas Baader.
„Was war eigentlich so faszinierend an Gewalt?“, fragt Kraushaar, der als Student in den 70er-Jahren selbst zum weit linken Milieu gehört hatte. „Ein Gewaltakt hatte die Funktion eines Zauberelixiers“, heißt der erste Teil seiner Antwort: „Dadurch schien der Einzelne gegenüber den Vertretern staatlicher Gewalt nicht nur gestärkt, sondern auch über sie erhaben zu sein.“ Weitere Teile der Antwort sind, dass Gewalt Berichterstattung und damit Aufmerksamkeit generierte. Schließlich befriedigte sie den Narzissmus einiger Akteure.
All das zusammen machte es möglich, dass ein Rüpel und ein – allerdings charismatischer – Versager zur „Erlöserfigur“ der linken Szene Westdeutschlands wurde: „Kaum jemand anders hat den mit Situationswitz, Charme und Virilität ausgestatteten Militanten so sehr verkörpert wie Andreas Baader.“ Er fand seine Rolle in der Kombination von Dandy und Desperado.
Wolfgang Kraushaar: „Die blinden Flecken der RAF“. (Klett-Cotta, Stuttgart. 421 S., 25 Euro).
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